HOHE LUFT
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Schwarze Stellen und „grosse Politik“. Zur Umstellung der Heidegger-Kontroverse

Reinhard Mehring lehrt Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er ist Autor der Carl-Schmitt-Biografie und wirft einen kritischen Blick auf die Rezeption von Heideggers Schwarzen Heften. Sich dabei nur auf die antisemitistischen Stellen zu berufen, sei zu verkürzt. Viel mehr gilt es Heideggers Intention hinter seiner Gesamtausgabe zu betrachten: ein neues Denken zu etablieren. Dem „Fall Heidegger“ ist auch ein Schwerpunkt im neuen HOHE LUFT Heft gewidmet, das morgen erscheint.

Reinhard Mehring, Heidelberg

Reinhard Mehring, Heidelberg

In Andersen Märchen Des Kaisers neue Kleider traut sich niemand zu sagen, dass der Kaiser nackt ist, bis endlich ein Kind auf der Straße das offenbare Geheimnis enthüllt. Solche Momente entlarvender Wahrhaftigkeit gibt es in Heideggers Korrespondenzen selten. In der Edition der Briefe an die Gattin (‚Mein liebes Seelchen!‘, 315) findet sich ein Antwortentwurf Elfrides, in dem es heißt: „Es liegen viele angefangene Briefe hier, aber ich schickte keinen ab.- Hast Du einmal darüber nachgedacht, was leere Worte sind – hohle Worte?“ Mancher Sturm im Blätterwald der Heidegger-Kritik reicht an die implosive Kraft dieser schlichten Frage nicht heran. Heideggers Texte und Posen riefen immer schon nach scharfer Kritik. Neben starken sachlichen Einwänden gibt es deshalb auch zahlreiche satirische Kritiken und Parodien. Hannah Arendt verglich Heidegger 1953 treffend mit einem Fuchs, der sich im eigenen Bau verfängt: „Wollte man ihn im Bau, wo er zu Hause war, besuchen, musste man in seine Falle gehen. Aus der freilich konnte jeder herausspazieren außer ihm selbst.“ (Arendt/Heidegger, Briefe, 1998, 383) Elfriede Jelineks starkes Stück Totenauberg (1991) spannte Heidegger – wie Francis Bacon den Papst – ins Gestell seines Provinzialismus ein. Die deutsche Universitätsphilosophie kann mit Heidegger schon lange nicht mehr viel anfangen, denn sie müsste sonst über eine produktive Transformation des „Seinsdenkens“ und der letzten beiden Abteilungen der Gesamtausgabe verfügen. Nach Gadamers philosophischer Hermeneutik ist hier aber nicht mehr viel gekommen. Heidegger hat produktive Aneignungen auch nicht erwartet und gewollt. Im jüngsten Band Schwarze Hefte findet sich dazu jetzt die Eintragung: „Schüler habe ich nicht gehabt, denn keiner wurde mir selber – ein Lehrer.“ (GA 97, 362) Seit über dreißig Jahren lebt der Heidegger-Diskurs mehr von der politischen Kontroverse. Die politische Skandalisierung wurde dabei mittlerweile zur supplementären Marketingstrategie. Hugo Ott hatte Heideggers Option für den Nationalsozialismus einst von der altkatholischen Apostasie her verstanden; der Herausgeber der Schwarzen Hefte, Peter Trawny, verweist jetzt mit größerer Resonanz auf den Antisemitismus.

Dazu finden sich auch im jüngsten Band Anmerkungen I-V wieder ebenso skandalöse wie hohle Phrasen. „Die Universität ist tot, es lebe die künftige hohe Schule der Wissenserziehung der Deutschen“ (GA 94, 125), jubelte der Freiburger Rektor einst in den frühen Schwarzen Heften. Sein Ressentiment gilt nach 1945 dann vor allem der alliierten Reeducation. Ein nüchterner Vergleich mit der Arisierung und Nazifizierung Deutschlands ist freilich nicht zu finden. Ohne sprachliche Sensibilität für seine Ignoranz gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen nennt Heidegger das Deutschland der Nachkriegszeit „ein einziges KZ“ (GA 97, 100) und die USA eine „Tötungsmaschinerie“ (GA 97, 151, 148). Seine Abendland-Rhetorik unterscheidet sich von der nationalsozialistischen Propaganda vor allem durch den Verzicht auf eine rassistisch ausgelegte Europa-Asien-Konfrontation. Die Zerstörung ist nicht das Werk asiatischer „Untermenschen“ und Barbaren, sondern eine Folge philosophischer Selbstzerstörung: „Die Zerstörung Europas ist, wie immer sie verlaufen mag, ohne oder mit Russland, das Werk der Amerikaner. ‚Hitler’ ist nur der Vorwand. Doch die Amerikaner sind ins ganze gesehen Europäer. Europa zerstört sich selbst.“ (GA 97, 230) Monotheismus und Metaphysik sind die Ursachen, wogegen Heidegger, der Antisemit und erklärte „Antichrist“, im regenerativen Gestus konservativer Revolution eine Restitution anfänglicher vorsokratischer „Möglichkeiten“ wünscht. Was ein solches „Abendland“ ohne das „metaphysisch“ verwüstete „Europa“ praktisch wäre, malt er sich kaum aus.

Heidegger wurde niemals „Führer des Führers“.

Eine Engführung und selektive Verkürzung der Schwarzen Hefte auf die Antisemitismusfrage lenkt von den anderen, quantitativ offensiver vertretenen Feindbestimmungen ab. Sind sein antirömischer Affekt und Antichristentum, Antibolschewismus und Antiamerikanismus, Anti-Liberalismus und Anti-Demokratismus, Nationalismus, Revanchismus und Chauvinismus, Regionalismus und Provinzialismus, Anti-Urbanismus und Antimodernismus nicht ebenfalls unvertretbar? Die NS-Hochschulpolitik konnte Heidegger nicht ernstlich beeinflussen. Niemals wurde er „Führer des Führers“. Wirkungsgeschichtlich betrachtet wurde eine andere fatale Weichenstellung einflussreich: seine Disjunktion von Wissenschaft und Philosophie, Universität und „anderem Denken“. Diese Folgen vor allem gehen den philosophischen Diskurs heute noch an.

Das Rektorat kam „zu früh“, meinte Heidegger in den Schwarzen Heften immer wieder und verlegte sich auf die postmetaphysische Aufgabe der semantischen Revolution seines „anderen“ Seinsdenkens. Von der Universitätspolitik ging er schon Ende der dreißiger Jahre zur Editionspolitik über und begann mit der Sicherung und Organisation seines Nachlasses. Heideggers „große Politik“ wurde die Gesamtausgabe. Der Äonenspekulant Ernst Jünger hat das früh gesehen: Zum 85. Geburtstag gratulierte er 1974 „mit herzlichen Wünschen, auch für das opus magnum, das nun beginnt“. Die Standarderzählung, bei Friedrich Wilhelm von Herrmann etwa in den Freiburger Universitätsblättern (1982) nachzulesen, lautet, dass der alte Heidegger zur Gesamtausgabe überredet werden musste und sich erst „im Herbst 1973“ dafür entschied. Der Plan hatte aber einen langen Vorlauf. Das Schlüsselereignis für Heideggers Werk, im Briefwechsel mit Imma von Bodmershof emphatisch erinnert, war hier die Jugendbegegnung mit Norbert v. Hellingraths Hölderlin-Ausgabe, insbesondere dem vierten Band mit den späten Hymnen.
Heidegger wurde damit auch von der Kanonpolitik des George-Kreises geprägt. „‚Hölderlin und Nietzsche’ – diese seltsam irrende Zusammenstellung von Namen hat Stefan George und sein Kreis geläufig gemacht“ (GA 97, 27), heißt es dazu jetzt in den Heften, und Heidegger toppte Nietzsche mit Hölderlin. In den zwanziger Jahren war er an Fragen der Nachlasspolitik Max Schelers beteiligt, im Nationalsozialismus gehörte er dann zu den Beratern der Weimarer Nietzsche-Ausgabe (BAW). Die Nietzsche-Edition reagierte nach 1945 auf die NS-Instrumentalisierung mit einer Absage an starke Deutungen (SA, Schlechta) und einem Übergang zur historisch-kritischen Edition (KSA, Colli/Montinari). Heidegger zog eine andere Konsequenz und begann schon Ende der dreißiger Jahre mit Überlegungen zur starken Edition seiner Manuskripte nach den Maßgaben seiner Selbstinterpretation. In jüngster Zeit wurden einige politische Streichungen in der Heidegger-Edition entdeckt und kritisiert. Solche Eingriffe verwundern nur denjenigen, der die erklärten Eigenarten der Ausgabe letzter Hand gegenüber historisch-kritischen Standards nicht genügend bedenkt. V. Herrmann verglich Heideggers „Anweisungen“ mit „Husserls Vollmachten“ und nannte u.a. die Berücksichtigung von Mitschriften, sinngemäße Gliederungen, „Erweiterungen, Kürzungen und Umstellungen“. Die politische Heidegger-Kontroverse wirft sich kleinteilig auf einzelne schwarze Stellen und Fragen. Eine nüchterne Analyse von Heideggers „großer Politik“ hat ihre Aufgaben aber an der ganzen Organisation der Gesamtausgabe, im Jargon gesprochen: der Ins-Werk-Setzung von Heideggers Wahrheit im Büchergestell.

 Die bisherige Debatte um die Schwarzen Hefte übersieht den Gesamtrahmen der „großen Politik“ der Gesamtausgabe fast völlig.

Die Gesamtausgabe folgt im Aufbau Alfred Baeumlers editorischem Konstrukt von Nietzsches Willen zur Macht. Die dritte Abteilung bringt, Heideggers Nietzsche-Deutung folgend, das eigentliche „Vermächtnis“ des „anderen Denkens“, die vierte, politische Abteilung übersetzt diese semantische Revolution mit mehreren Bänden Seminaren, Ausgewählten Briefen und Schwarzen Heften an den elitären Kreis der Heideggerianer. Der Wille zur Macht unterschied zwischen dem „Prinzip einer neuen Wertsetzung“ und der „Zucht und Züchtung“ des Übermenschen. Die bisherige Debatte um die Schwarzen Hefte übersieht den Gesamtrahmen der „großen Politik“ der Gesamtausgabe fast völlig. Heidegger plante in der Nietzsche-Nachfolge nicht weniger als eine semantische Revolution. Er wollte ein „anderes Denken“ lehren und den „künftigen Menschen“ in Heideggerianer verwandeln.

Der entsprungene Altkatholik gehört in die Sektengeschichte der Neuzeit. Nicht nur den George-Kreis fand er dafür als hohes Muster vor. Seit den zwanziger Jahren brach er mit den Formen und Zielen des akademischen Betriebs und inszenierte seine selbstreferentiellen Auftritte als akademische Ereignisse, um Hörer in Heideggerianer zu verwandeln und als Protokollanten, Sekretäre oder Editoren für sein Werk einzuspannen. In der Vorrede von Nietzsches Antichrist heißt es: ‚Dies Buch gehört den wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch keiner von ihnen. […] Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum geboren. […] Das allein sind meine Leser, meine rechten Leser, meine vorherbestimmten Leser: was liegt am Rest? – Der Rest ist bloß die Menschheit.‘ So wünschte der Epigone zu denken, so träumte er. So dachte auch Heidegger, so plante er es. Nach dem Scheitern seines Rektorats stellte er auf den Adressaten Nachwelt um und betrieb sein kommendes „Geschick“ der Gesamtausgabe.
Heideggers opus magnum ist die Gesamtausgabe; sie sollte die semantische Revolution stiften, die dem philosophischen Führer des „Wissensdienstes“ im Rektorat nicht „unmittelbar“ gelang. Heidegger konstruierte seine Gesamtausgabe in der Nietzsche-Nachfolge nach dem Muster des Willen zur Macht. In der dekonstruktiven Manier der „Überwindung“ durch „Verwindung“ bietet sich deshalb eine Adaption von Nietzsches später Wagner- und Bayreuth-Kritik an: Der Wagnerkult Bayreuths widerte Nietzsche schon in den Anfängen an. „Was war geschehen? – Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden“. Wer ein anderes dekonstruktives Modell sucht, lese etwa Goethes Cagliostro-Drama Der Groß-Coptha von 1792. Der strategische Jünger des „zweiten Grades“ erklärt seiner Frau darin (II.3): „Du musst unterscheiden – wenn du kannst. Er ist kein gemeiner Schelm. Er ist so unternehmend und gewaltsam als klug, so unverschämt als vorsichtig; er spricht so vernünftig als unsinnig; die reinste Wahrheit und die größte Lüge gehen schwesterlich aus seinem Munde hervor. Wenn er aufschneidet, ist es unmöglich zu unterscheiden, ob er dich zum besten hat, oder ob er toll ist.- Und es braucht weit weniger als das, um die Menschen verwirrt zu machen.“

Der Großmeister des unfreiwilligen philosophischen Humors hat sich selbst mit der Gesamtausgabe entzaubert.

Bei Goethe zerstören die erotisch und ökonomisch allzu handfest und kurzatmig interessierten Jünger des Meisters das esoterische Spiel. Wer einen Betrieb gründet, muss mit ungewollten Nebenfolgen rechnen. Abtrünnige Editoren, semantische Verwässerungen, pragmatische Konzessionen gehören als Kollateralschäden dazu. Wagner gründete Bayreuth; Heidegger schuf ungefähr die Gesamtausgabe, die er gewollt hatte. Die Geschäftsgeheimnisse der editorischen „Anweisungen“ und Verlagskorrespondenz sind freilich noch nicht publiziert. Der Heidegger-Editor Peter Trawny ruft heute nach einer zweiten, historisch-kritischen Gesamtausgabe. Die Zeit des Ereignisses ist aber vorbei. Der Großmeister des unfreiwilligen philosophischen Humors hat sich selbst mit der Gesamtausgabe entzaubert, und die deutsche Universitätsphilosophie hat am Ende der Gutenberg-Galaxis heute wahrhaftig andere Ressourcenprobleme und Aufgaben als unendliche Heidegger-Edition. Die weitere Öffentlichkeit verwechselt die esoterische Pose aber leider immer noch mit dem Standard akademischer Philosophie und Wissenschaft, entspricht Heidegger doch auf den ersten Blick nur zu gut dem Witz der thrakischen Magd über den Philosophen im Brunnen. Der Philosophenkönig ist der Narr.
Tatsächlich war Heidegger aber auch ein virtuoser Medienpolitiker und Technokrat seines Betriebs. Virtuosen und Scharlatane seines Kalibers gibt es heute unter gewandelten Bedingungen in der auf Ökonomie und Selbstvermarktung, Geistes-Labeling eingestellten Universität immer wieder. Nach knapp 100 Bänden muss Heideggers Überlieferungsgeschick nicht weiter verwundern und empören. Betrachten wir, in Arendts Bild gesprochen, Heideggers verstiegenen Bau analytisch distanziert, ohne ihn zu betreten oder tump zu zerstören. Die philosophischen Sektierer sind aber nach wie vor unter uns. Verwechseln wir sie nicht mit dem akademischen Kerngeschäft. Betrachten wir, in Arendts Bild gesprochen, Heideggers Bau distanziert, ohne ihn zu betreten und zu zerstören. Ressentiment und Ikonoklasmus sind keine philosophische Lösung.

Prof. Dr. Reinhard Mehring, geb. 1959, Promotion 1988 (Freiburg), Habilitation 2000 (HU-Berlin). Seit 2007 Prof. für Politikwissenschaft und deren Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Bücher u.a.: Heideggers Überlieferungsgeschick. Eine dionysische Selbstinszenierung, Würzburg 1992; Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014; Ethik nach Theresienstadt. Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz, Würzburg 2015.

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