Alle Artikel in: Interview

Warum wir Räume zum Träumen brauchen

Ein Interview mit Ozan Zakariya Keskinkilic über antimuslimischen Rassismus und mögliche Perspektivwechsel Der Autor, Lyriker und Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç (*1989) forscht an Berliner Hochschulen unter anderem zu antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus und Orientalismus. Er beschreibt etwa, wie einzelne Muslim:innen als Vertreter:innen eines Kollektivs wahrgenommen werden und sich für Taten anderer rechtfertigen müssen. Was daran problematisch ist und warum wir progressive Utopien brauchen, erklärte er unserer Autorin Lena Frings  in einem kurzen Interview. Was sind die Auswirkungen einer Kollektivierung von muslimisch gelesenen Menschen? Die Kollektivierung führt zu einem Klima des Misstrauens, das in sehr konkrete Diskriminierung umschlägt, etwa im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder in Form von Racial Profiling durch Polizeikräfte und Sicherheitsbehörden. Indem Muslim:innen zum Sündenbock, zu einem fremden, dämonischen Kollektiv konstruiert werden, können sie in ihrer Individualität und Komplexität nicht wahrgenommen werden, schon gar nicht als Teil dieser Gesellschaft. Abgesehen von den Ausschlüssen und der Gewalt, die sie erfahren, hinterlässt das Feindbild Spuren im Bewusstsein der Betroffenen. Es frisst sich ins Innere und begleitet im Alltag. Das Gefühl der Entfremdung wird …

Gesundheit und digitale Transformation: Risiken und Chancen

Wie „menschlich“ ist die digitale Medizin? Sind KI-Systeme die besseren Ärzte? Wie sicher sind unsere Gesundheitsdaten? Wie wichtig ist Ethik im Bereich Digital Health? Über diese und andere spannende Fragen rund um Gesundheit im digitalen Zeitalter diskutiert Dr. Rebekka Reinhard, stv. Chefredakteurin von HOHE LUFT mit: Dr. Jens Baas, Vorstandvorsitzend der TK, ein studierter Humanmediziner, der nach dem Studium zunächst an zwei chirurgischen Universitätskliniken arbeitete. Emotion Award-Preisträgerin Mina Saidze, KI- und Big Data-Fachfrau, Gründerin von Inclusive Tech, der europaweit ersten Lobby- und Beratungsorganisation für Diversity und Inklusion in der Tech-Branche, die vom Wirtschaftsmagazin Forbes in die Liste der erfolgreichsten „30 Under 30“ aufgenommen wurde. Kenza Ait Si Abbou, Spezialistin für Robotics und KI und hochbegabte Rechenkünstlerin, die schon als Kind Matheaufgaben schneller löste, als ihre Mutter sie ihr stellen konnte, und heute für Unternehmen wie IBM. Philipp Westermeyer, ehemaliger Vorstandsassistent bei Bertelsmann und Gründer der Online Marketing Plattform OMR. Ein Panel von Inspiring Network, Die Techniker (TK) und HOHE LUFT über die digitale Transformation im Gesundheitsbereich. Schaut mal rein – es lohnt sich! (Bild: Lisa Notzke)

Corine Pelluchon zur Wahl in Frankreich

1 -Was sind Ihre Gedanken und Gefühle nach dem Ergebnis der Stichwahl Macron-Le Pen? Ich war erleichtert, dass Marine Le Pen nicht gewählt wurde, aber die Zahl der Menschen, die für sie gestimmt haben ist besorgniserregend. Ganz zu schweigen von der Wahlenthaltung. In Frankreich, wie in vielen anderen Ländern in Europa und der Welt, gibt es eine Müdigkeit, einen Mangel an einem gemeinsamen Horizont. Die Stimmabgabe für extremistische Parteien ist nicht nur auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen die Menschen zu kämpfen haben. Das Fehlen eines gemeinsamen Horizonts ist auch eine Reaktion auf eine technokratische Bewältigung der Probleme, die die Politik ihres Inhalts beraubt. Und Rechtspopulisten nutzen dieses Vakuum, um eine Politik der Identitätsstiftung zu betreiben. Um ein Debakel in fünf Jahren zu vermeiden, müssen wir das Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft wiederherstellen, eine Politik betreiben, die nicht nur eine Anpassung an den Neoliberalismus ist oder auch nur eine Möglichkeit, die durch diese ökonomistische Ordnung hervorgerufenen Ungleichheiten auszugleichen. Meiner Meinung nach ist es die Lösung, Ökologie als eine weisere und gerechtere Art, die Erde …

Über die Grenzen

Die auf Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier reiste nach der Ausweitung von Putins Krieg auf die gesamte Ukraine an die Grenzen der Nachbarländer. In Ungarn, Polen und der Slowakei versuchte sie herauszufinden, welche Realitäten die Menschen nach der Flucht erwartet. Wir sprachen über die blinden Flecken Europas und die Gleichzeitigkeit von brutaler Gewalt an den Grenzen und einer schwankenden Solidaritätsbewegung. Interview: Lena Frings HOHE LUFT: Wie hast Du die Situation an den Grenzen wahrgenommen? FRANZISKA GRILLMEIER: Unmittelbar an den Grenzen, wo die Leute mit einer Kiste oder einem Rucksack ankamen, war da diese große Stille. Es gibt dort eine Ruhe, obwohl hunderte Menschen an einem Ort sind, die ich auch in Moria oder Bangladesch in Flüchtlingslagern erlebt habe. Dabei war die Ruhe hier unmittelbarer: Die Menschen wirkten im Gegensatz zu den Lagern nicht in sich gekehrt, ihnen lag die Erfahrungen der letzten Stunden noch in den Gesichtern. Es gab noch keine Worte, um zu begreifen, wie viel man gerade hinter sich gelassen hatte. Es ist mir sehr wichtig zu betonen, dass ich die Situation, in …

»Unsicherheit ist ein entscheidender Teil von Wissenschaft und kein Makel«

Sibylle Anderl ist Astrophysikerin, Philosophin und Journalistin. Wir fragten sie, was sie für real hält, vor welchen Herausforderungen die Wissenschaft in einer Pandemie steht und was sie Außerirdische fragen würde, sollte sie ihnen begegnen. Interview: Thomas Vašek Fotos im Heft: Katrin Binner Es gibt wohl nicht viele Philosophinnen, die schon einmal nächtens auf knapp 5000 Meter Höhe in der chilenischen Atacamawüste am Teleskop standen, um den Sternenhimmel zu beobachten. Die Astrophysikerin und Philosophin Sibylle Anderl hat über interstellare Stoßwellen promoviert und arbeitete mehrere Jahre in der Wissenschaft, unter anderem zu Fragen der Sternentstehung und der Philosophie der Astrophysik. Heute ist sie Mitherausgeberin der Politik- und Kulturzeitschrift »Kursbuch« und Wissenschaftsredakteurin der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Dort schreibt Anderl über die Forschung zur Coronapandemie, die sie auch als Wissenschaftstheoretikerin vor viele schwierige Fragen stellt. HOHE LUFT: Frau Anderl, sind Sie sicher, dass unsere Interviewsituation jetzt real ist – und dass wir uns nicht in einer Computersimulation befinden? SIBYLLE ANDERL: Das ist in der Tat eine nicht ganz abwegige Frage, die eine lange philosophische Tradition hat. Und in der …

»Wenn das Schild in die falsche Richtung weist, dann muss man es umdrehen«

Hubert Wolf ist einer der angesehensten und engagiertesten Theologen und Kirchenhistoriker des Landes. Er gab uns Auskunft über den Wandel (in) der Kirche – und über die wahre Bedeutung der Tradition. Interview: Rebekka Reinhard, Thomas Vašek Seit die katholische Kirche durch diverse Missbrauchsskandale weltweit in der Kritik steht, ist es wichtiger denn je, grundsätzliche Fragen zu klären: Wie hängen Fundamentalismus und Reformverweigerung zusammen? Welche Rolle spielen hierarchische Machtstrukturen? Und vor allem: Was ist das Verhältnis von Wandel und Tradition? Als interdisziplinär ausgerichtete Philosophie-Zeitschrift wollten wir auf diese Fragen Antworten finden. Hubert Wolf war für uns der kompetenteste Gesprächspartner, den wir uns wünschen konnten. Wolf, der an der Universität Münster lehrt und mit seinem Team seit vielen Jahren in den Vatikanischen Archiven forscht, ist nicht nur ein herausragender Wissenschaftsvermittler; der mit zahlreichen Preisen wie dem Leibniz-Preis und (zuletzt) dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa Geehrte ist vielen auch als »Dan Brown« der Kirchengeschichte bekannt. Sein internationaler Bestseller über die »Nonnen von Sant’Ambrogio« wird gerade verfilmt. Im Gespräch mit HOHE LUFT, das via Zoom stattfindet, besticht Wolf durch …

»Wir dürfen Freiheit nicht nur als Freiheit zum vernünftigen Handeln verstehen«

Der bekannte Staatsrechtler Christoph Möllers wird für sein Buch »Freiheitsgrade« 2021 mit dem renommierten Tractatus-Essaypreis des Philosophicum Lech ausgezeichnet. Wir sprachen mit dem Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin im Herbst 2020 über die Coronakrise, politischen Liberalismus und das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit und Demokratie. Interview: Thomas Vašek Illustration: Gabriele Dünwald HOHE LUFT: Herr Möllers, inwieweit bedroht die ­Coronakrise unsere Freiheit? CHRISTOPH MÖLLERS: Ich würde nicht mehr von ­Bedrohung reden, wir sind ja real eingeschränkt. Wir haben Verluste an Freiheit, die wir auch nicht wieder einholen können. Die Frage ist, welche langfristigen Folgen das hat. Man kann sich vorstellen, dass es Gewöhnungseffekte gibt. Es wäre ein Problem, wenn die Gesellschaften sich auf Dauer zu sehr daran gewöhnten, dass sie derart eingeschränkt werden – selbst wenn dies aus vernünftigen Gründen geschieht. Wie würden Sie als Staatsrechtler den derzeitigen Zustand beschreiben? Ist das noch die rechtsstaat­liche »Normallage« – oder tatsächlich ein Ausnahmezustand, wie manche glauben? Das ist eine interessante Frage, die darauf hinweist, dass wir einen Begriff bräuchten, den wir nicht haben. Die Rede vom Ausnahmezustand …

Worauf es wirklich ankommt

Derek Parfit (1942 – 2017) war einer der bedeutendsten Moralphilosophen der Gegenwart. 2013 gewährte uns der öffentlichkeitsscheue Großdenker ein außergewöhnliches E-Mail-Interview, das nicht nur im Zuge um die Fakten und Debatten um den Klimawandel von bleibender Aktualität ist. Im Interview mit HOHE LUFT spricht er über personale Identität, den Tod und seinen epochalen Entwurf einer universellen Moraltheorie. Fragen und Text: Thomas Vašek Fotos: Steve Pyke Derek Parfit war vielleicht einer der größten Moralphilosophen seit Immanuel Kant. Parfits Theorie in seinem monumentalen Werk »On what matters« (»Worauf es ankommt«) lässt sich, in aller Kürze, so zusammenfassen: Als Vernunftwesen haben wir starke Gründe, uns um das Wohl anderer zu sorgen. Menschlichkeit ist rational. Was wir tun sollten, ist nicht subjektiv. Es gibt universelle moralische Wahrheiten, die genauso existieren wie etwa mathematische Wahrheiten: Dass Leiden schlecht ist, ist genauso wahr wie die Tatsache, dass 1+1 = 2 ist. Schon Parfits erstes Buch »Reasons and Persons« war eine Sensation. Der Philosoph attackierte darin tiefsitzende Auffassungen von Moral und Vernunft. Mit ungewöhnlichen Gedankenexperimenten zeigte er etwa, dass es nicht immer …

»Wir müssen anders leben«

Der Mediziner und Gesundheitsökonom Karl Lauterbach ist einer der gefragtesten Politiker während der Coronakrise. Für unser Heft HOHE LUFT kompakt »Mensch und Medizin« sprachen wir mit ihm über die Lehren aus der Pandemie, die Schwächen demokratischer Gesellschaften in Krisensituationen – und seine Ängste als Politiker und Mensch. Interview: André T. Nemat, Thomas Vašek Illustration: Gabriele Dünwald HOHE LUFT: Herr Lauterbach, wie beurteilen Sie die derzeitige Entwicklung der Pandemie? (Stand: 15. Januar 2021) KARL LAUTERBACH: Wir sind an einem ganz kritischen Punkt angekommen. Die nächsten zwei bis drei Monate werden die schwersten der gesamten Pandemie sein. Weil wir noch zu wenig Impfstoff haben, uns mitten in einer schweren zweiten Welle befinden – und weil durch die Winterwetterlage die Lockdown-Maßnahmen weniger wirken. Wenn wir breitflächig dann auch noch die britische Mutation B117 in Deutschland bekämen, wäre sogar eine dritte Welle möglich. Was muss aus Ihrer Sicht jetzt getan werden? Mir scheint es wichtig zu sein, den Lockdown so lange fortzusetzen, bis wir eine Zielinzidenz von 25 pro 100.000 Einwohner pro Woche erreicht haben. Das jetzige Lockdown-Ziel von …

Wir hätten da mal drei Fragen…

In unserem aktuellen Heft antworten Bas Kast, Gesine Schwan und Oliver Kalkofe auf drei Fragen zum Schwerpunktthema Vorurteile. Hier lesen Sie die Antworten von Melodie Michelberger und Ursula Karven. Bei welchem Vorurteil haben Sie sich schon mal ertappt? Welchen Vorurteilen sind Sie selbst ausgesetzt? Wie gehen Sie mit Vorurteilen um?   Melodie Michelberger ist Influencerin und Aktivistin für Feminismus und Body Positivity 1. So wie viele in der westlichen, weiß-dominierten und christlich sozialisierten Gesellschaft bin ich mit einem Bias, einem massiven Vorurteil gegenüber dicken Körpern aufgewachsen. In meinem Kopf war und ist das elendige Stigma, »dick = disziplinlos, faul, wertlos« fest verankert. Dieses abschätzige Stigma hat mich all die Jahre sogar so unter Druck gesetzt, dass ich mit aller Kraft dagegen ankämpfte, selbst dick zu werden, konstant Diät hielt und meinen Körper über Jahrzehnte aushungerte. Mir dieses Vorurteil selbst einzugestehen war wichtig, um weiter zu kommen. 2. Als dicke Frau bekomme ich eben genau dieses Stigma selbst oft zu hören. Wildfremde Menschen schreiben mir herablassende Nachrichten oder posten abwertende Kommentare über meinen Körper unter meine …