Alle Artikel in: Aktuell

Die Meinungen der selbsternannten Osteuropa-Versteher

Es liegt etwas in der Luft… … Es ist der Meinungsstreit zum Ukrainekrieg. Die einen sind für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, die anderen finden, dass man Wladimir Putin nicht reizen darf. Die einen fordern ein Gas-Embargo, um den Druck auf Russland zu erhöhen, die anderen sind dagegen, weil sie fürchten dass dann die deutsche Wirtschaft kollabiert. Und zum Geisteszustand des russischen Präsidenten hat ohnehin jeder seine eigene Meinung. Auf Facebook, Twitter &Co. wimmelt es von selbsternannten Generälen, Strategieexperten und Osteuropa-Verstehern, die fiebrig das Kriegsgeschehen kommentieren, der Politik Ratschläge geben oder Zensuren verteilen. Man kann der Meinung sein: Das nervt. Ob zum Ukrainekrieg, zur Coronapandemie und vielen anderen Fragen: Selbstverständlich darf jede Person ihre Meinung frei äußern, jedenfalls im gesetzlichen Rahmen. Wir nennen es Meinungsfreiheit, davon lebt die Demokratie. Die Frage ist allerdings, ob man zu allem eine Meinung haben muss.  Sie stellt sich gerade in den sozialen Medien, wo heute tatsächlich jede/r fast alles öffentlich sagen kann. So ist es nicht geboten (und auch nicht klug), seine Meinung zu Dingen zu äußern, von …

Corine Pelluchon zur Wahl in Frankreich

1 -Was sind Ihre Gedanken und Gefühle nach dem Ergebnis der Stichwahl Macron-Le Pen? Ich war erleichtert, dass Marine Le Pen nicht gewählt wurde, aber die Zahl der Menschen, die für sie gestimmt haben ist besorgniserregend. Ganz zu schweigen von der Wahlenthaltung. In Frankreich, wie in vielen anderen Ländern in Europa und der Welt, gibt es eine Müdigkeit, einen Mangel an einem gemeinsamen Horizont. Die Stimmabgabe für extremistische Parteien ist nicht nur auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen die Menschen zu kämpfen haben. Das Fehlen eines gemeinsamen Horizonts ist auch eine Reaktion auf eine technokratische Bewältigung der Probleme, die die Politik ihres Inhalts beraubt. Und Rechtspopulisten nutzen dieses Vakuum, um eine Politik der Identitätsstiftung zu betreiben. Um ein Debakel in fünf Jahren zu vermeiden, müssen wir das Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft wiederherstellen, eine Politik betreiben, die nicht nur eine Anpassung an den Neoliberalismus ist oder auch nur eine Möglichkeit, die durch diese ökonomistische Ordnung hervorgerufenen Ungleichheiten auszugleichen. Meiner Meinung nach ist es die Lösung, Ökologie als eine weisere und gerechtere Art, die Erde …

Von Gedankenspielen und der Absurdität des Realen

Es liegt etwas in der Luft… Text: Lena Frings … es sind die moralischen Fehlschlüsse durch Laborbedingungen des Denkens. Philosoph:innen lieben moralische Dilemmata. Da wäre das Trolley-Problem, welches in vielen Schulbüchern vorkommt. Anhand der Vorstellung einer aus der Kontrolle geratenen Straßenbahnfahrt müssen Lernende beurteilen: Darf ich aktiv eine Person opfern, um das Leben mehrerer zu retten? Es gibt ferner das Problem von Buridans Esel, in dem sich dieser zwischen zwei identischen Heuhaufen nicht entscheiden kann und darum verhungert. Und auf das Dilemma, dass sich die Existenz Gottes ebenso wenig beweisen lässt wie ihr Gegenteil, findet Blaise Pascal eine amüsante Antwort für richtiges Verhalten, die sich den Mitteln der Spieltheorie zu bedienen scheint. Dabei lässt er außer Acht, dass Götter auch in ihm ganz undenkbaren Formen existieren könnten. Diese und andere Gedankenspiele sind Beispiele für Zwickmühen im Baukastensystem, von jeder Vielschichtigkeit des Lebens befreit. Einst wie heute stecken wir in ganz realen Dilemmata, die nichts von der theoretischen Verspieltheit haben. Sie sind vielschichtig und grausam bis in die undurchschaubarsten Tiefen. Aktuell müssen wir Antworten auf einen …

Mehr als guter Wille – Anleitung zum Helfen

Es liegt etwas in der Luft… … es ist die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung angesichts des Krieges. Bisher: beeindruckend. Viele spenden Geld, viele engagieren sich ehrenamtlich bei lokalen Hilfsorganisationen. Andere gehen ohne zu zögern zum Bahnhof und laden ankommende ukrainische Familien zu sich nach Hause ein, geben ihnen ein provisorisches Obdach, integrieren sie liebevoll-pragmatisch in ihren Alltag. Wieder andere wollen helfen – denken aber viel zu viel über die Art des „richtigen” Helfens nach. Wer zu sehr an Theorien und Hypothesen klebt, kann nicht praktisch werden. Jedenfalls nicht so schnell, wie jetzt erforderlich! Allen, die sich von diversen Bedenken wie gelähmt fühlen, möchten wir hier etwas Orientierung geben. „Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden (sic), als allein ein guter Wille”, schrieb Immanuel Kant über das unbedingt Gute. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es”, meinte dagegen Erich Kästner. Für Kant zählt allein die gute Absicht, für Kästner allein die gute Konsequenz. Angesichts der vielen Menschen, die jetzt unsere Unterstützung brauchen, scheint …

Handeln im Unvorstellbaren – das neue Sonderheft ist da!

HOHE LUFT kompakt: Sonderheft 1/ 2022: „Handeln im Unvorstellbaren: Wirtschaft und Realität“ „Wenn ein Unternehmen keinen Wert für die Gesellschaft hat, hat es seine Bestimmung verfehlt“, so Ex-Siemens-Chef und jetziger Aufsichtsratsvorsitzende der Siemens Energy AG Joe Kaeser im aktuellen HOHE LUFT kompakt. Der Topmanager gab HOHE LUFT-Chefredakteur Thonas Vašek und der stv. Chefredakteurin Dr. Rebekka Reinhard exklusiv ein großes Interview, in dem er über sein Lebenswerk spricht, über Konzernführung in Krisenzeiten und unternehmerische Verantwortung. Was macht ein lebendiges Unternehmen heute aus? Das ist die Leitfrage der aktuellen Ausgabe. Denn Unternehmen müssen in Zukunft noch radikaler als bisher ihre Aufgabe und Verantwortung in der Welt überdenken. Schon der Schock der Pandemie zwang die Wirtschaft dazu, dem Agilitäts-Paradigma endlich wirklich gerecht zu werden. Nun gilt es erst recht, eine 360-Grad-Sicht auf Wirtschaft und Realität einzunehmen – und entsprechend zu handeln. Lebendige Unternehmen haben gesellschaftliche Veränderungen ebenso im Blick wie globale Bedrohungen. Der Blick nach innen (Selbstbeobachtung), der Blick nach außen (Welt), der Blick nach vorn (Zukunft), der Blick nach allen Seiten (Komplexität) – das sind die Perspektiven, …

25. Philosophicum Lech: Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls.

Vom 20. bis zum 25. September findet das diesjährige Philosophicum in Lech statt. Ein Gefühl, welches lange vor allem in den Blasen des Internets sein Unwesen zu treiben schien, ist aus den Schattenräumen und Kommentarspalten herausgebrochen. Dabei ist es ein Trugschluss, dass Hass im Netz losgelöst von realen Gewalttaten bestehen kann. Immer schon forderte der Hass unschuldige Opfer, wie etwa die von Attentaten durch Rechtsextreme. Hass im Netz diente teilweise als Vorbereitung oder Reaktion. Nun spielt das zumeist verdeckt agierende und geächtete Gefühl wieder auf weltpolitischer Bühne. Es ist Kriegstreiber. Der Hass auf den „Westen“ äußert sich in kriegerischen Handlungen und Hass mag auch eine der Antworten von Gegner:innen auf ebendiese sein. Auf dem 25. Philosophicum in Lech setzen sich Philosoph:innen, Geisterwissenschaftler:innen und Psycholog:innen mit diesem Gefühl auseinander und stellen ganz grundsätzliche Fragen. Aus welchen Quellen speist sich der Hass? Gibt es plausible Gründe? Wie lässt er sich von Kritik und Antipathie abgrenzen? In welchem Verhältnis steht er zu anderen Affekten, wie Neid, Angst, Eifersucht, Ohnmachtserfahrungen und Macht-Phantasien? Hat er eine lustvolle Seite? Diesen und …

Über die Grenzen

Die auf Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier reiste nach der Ausweitung von Putins Krieg auf die gesamte Ukraine an die Grenzen der Nachbarländer. In Ungarn, Polen und der Slowakei versuchte sie herauszufinden, welche Realitäten die Menschen nach der Flucht erwartet. Wir sprachen über die blinden Flecken Europas und die Gleichzeitigkeit von brutaler Gewalt an den Grenzen und einer schwankenden Solidaritätsbewegung. Interview: Lena Frings HOHE LUFT: Wie hast Du die Situation an den Grenzen wahrgenommen? FRANZISKA GRILLMEIER: Unmittelbar an den Grenzen, wo die Leute mit einer Kiste oder einem Rucksack ankamen, war da diese große Stille. Es gibt dort eine Ruhe, obwohl hunderte Menschen an einem Ort sind, die ich auch in Moria oder Bangladesch in Flüchtlingslagern erlebt habe. Dabei war die Ruhe hier unmittelbarer: Die Menschen wirkten im Gegensatz zu den Lagern nicht in sich gekehrt, ihnen lag die Erfahrungen der letzten Stunden noch in den Gesichtern. Es gab noch keine Worte, um zu begreifen, wie viel man gerade hinter sich gelassen hatte. Es ist mir sehr wichtig zu betonen, dass ich die Situation, in …

Die neue HOHE LUFT ist da! Was können wir noch glauben?

Wir haben diese Ausgabe noch vor der »Zeitenwende« konzipiert; als Menschen noch nicht aus der Ukraine flohen, kämpfen mussten, einander verloren oder in Kellern Schutz suchten. Viele der von uns behandelten Themen, wie der »Widerstand«, die »Demokratie«, die »Sucht nach mehr« oder auch die »Freundschaft« klingen nun anders und erhalten im besten Fall eine weitere Bedeutungsebene. Und gerade die Frage »Was können wir noch glauben« scheint in einer Zeit, wo die Wahrheit sich wieder zwischen Ost und West zu teilen scheint, unglaublich relevant. Solltet Ihr dennoch die ein oder andere Zeile angesichts der aktuellen Situation als unpassend empfinden, bitten wir dafür um Entschuldigung. ⁠ ⁠ Wir wünschen Euch viel Kraft in diesen unruhigen Zeiten und von Herzen alles Gute.

Was es heißt, etwas zu »müssen«

Es liegt etwas in der Luft… … Es ist der Rauch über den Häusern von Kiew, Charkiw und Mariupol. Es ist das Entsetzen über diesen grauenhaften Krieg. Es ist die bange Frage, was den Mann im Kreml noch stoppen kann. Es ist die blanke Angst vor allem, was womöglich noch kommt. Es ist aber auch die Bewunderung für all jene, die sich dem brutalen Angriff auf die Ukraine todesmutig entgegenstellen. „Jeder von uns stirbt irgendwann,” sagte der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko im Interview mit »Bild«-Reporter Paul Ronzheimer: »Als ehemaliger Soldat habe ich gespürt: Wenn mein Land mein Leben braucht, dann muss ich mein Land verteidigen. Und wenn es nötig wird: Mit meinem Leben zahlen.« Klitschko verteidigt sein Land, wie sein Bruder Wladimir und viele andere, weil er es »muss«, wie er selbst sagt – weil er nicht anders kann. Er tut es nicht einfach nur aus Pflicht. Er tut es aus innerer Überzeugung, aus einer »willentlichen Notwendigkeit«, wie es der Philosoph Harry Frankfurt nennt. Das ist kein törichter männlicher Heroismus. Es geht viel mehr darum, für …

Spirituelle Apokalypse

Der russische Nationalist Alexander Dugin erklärt dem Westen den Krieg. Er beruft sich auf Martin Heidegger und den italienischen Esoteriker Julius Evola. Dahinter steckt das gefährliche Projekt einer geistig-politischen Totalumwälzung – ein ontologischer Faschismus. Text: Thomas Vašek Alexander Geljewitsch Dugin hasst Amerika, den Westen, die moderne Welt, die für ihn immer mehr in Nihilismus und Dekadenz versinkt. Der 60-jährige Philosoph und Politologe träumt von einem wiedererstarkten Russland, das dem Siegeszug westlicher Werte Einhalt gebieten soll. Er beruft sich gern auf Martin Heidegger. Den Menschen im verkommenen Westen sage Heidegger nichts mehr, schreibt Dugin: Daher kann er zu uns sprechen. Dugins zweite Leitfigur ist in Deutschland bislang weniger bekannt. Es ist der italienische Kulturphilosoph und Esoteriker Julius Evola – ein protofaschistischer Rassentheoretiker und Antisemit, der die SS als heldenhaften Eliteorden verehrte, eine faschistische Rassenlehre entwickelte und ein Vorwort zu den »Protokollen der Weisen von Zion« schrieb. Der Philosoph Alexander Geljewitsch träumt von einem wieder erstarkten Russland, das dem Siegeszug westlicher Werte Einhalt gebieten soll. Dugin, Heidegger, Evola – ein auf den ersten Blick seltsames Gespann. Da ist …