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Verständliche Philosophie in einer schwer verständlichen Welt?

Wer möchte nicht verständlich sein? Zwar wird manchmal behauptet, es gäbe Philosophen, die würden extra so schreiben, dass sie keiner versteht. Sie würden, so hört man, sich ganz bewusst einer Sprache bedienen, die irgendwie geheimnisvoll und wichtig klingt, aber eigentlich inhaltsleer ist. Sie sagen nichts, tun das aber auf eine Weise, die nach sehr viel klingt. Am Ende kann dann jeder in die Worte des Philosophen hineinlegen, was er selbst möchte, aber was der Philosoph wirklich sagen wollte, bleibt unverständlich, vielleicht, so meint man, weil es da auch gar nichts zu verstehen gibt.

Dass dies falsch sein muss, wird schon daran klar, dass es durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte viele kluge Menschen gibt, die diese Philosophen immer wieder lesen und sagen, dass sie dabei etwas gelernt haben. Als Beispiele für solche „orakelnden Philosophen“ – wie Karl Popper sie genannt hat, um vor ihnen zu warnen, werden immer wieder gern Hegel und Heidegger genannt. Aber merkwürdigerweise werden beide Denker noch immer gelesen, ihre Bücher werden weiterhin gedruckt und gekauft, ihr Denken wird an Universitäten gelehrt – sind die Leute, die diese Schriften lesen und von sich sagen, dass sie daraus etwas lernen, alle einer gewaltigen Suggestion erlegen? Oder gehören sie gar zu einem Geheimbund, der sich vorgenommen hat, ein Märchen von einer tiefen, aber unverständlichen Philosophie in die Welt zu setzen?

Auf der anderen Seite gibt es Philosophen, denen der Vorwurf der orakelnden Unverständlichkeit nie gemacht wird, obwohl kaum jemand ihren Untersuchungen folgen kann. Immanuel Kant ist einer von ihnen. Zwar hat er ein paar Twitter-taugliche und gern zitierte Sätze in die Welt gesetzt, die gern bei jeder Gelegenheit wiederholt werden (ob sie dabei auch verstanden werden, kann dahingestellt bleiben). Aber wer kann schon von sich sagen, dass er einen Satz aus der Kritik der reinen Vernunft auf Anhieb und gar „ohne Leitung durch einen anderen“ verstanden hätte?

Dann sind da noch die Philosophen, von denen man gern sagt, dass sie doch sehr verständlich seien. Nein, ich meine nicht Precht, ich meine z.B. Ludwig Wittgenstein. Gut, den Tractatus, den versteht, möchte ich einmal behaupten, auch kaum jemand, abgesehen von den paar berühmten Sätzen über Klarheit, die so gern zitiert werden von denen, die eben „Klarheit“ also „Verständlichkeit“ von den Philosophen fordern. Aber wenn man etwa die „Philosophischen Untersuchungen“ liest, oder gar, was ich sehr empfehle, „Über Gewissheit“ – da wird in schönen einfachen Sätzen mit alltäglichen Beispielen über große philosophische Fragen gesprochen, und bei jedem Gedanken, bei jeder neuen These, hat man das Gefühl, sehr klar zu verstehen, was Wittgenstein dem Leser sagen will.

Stimmt das wirklich? Ich weiß es nicht, ich bin aber immer wieder erstaunt, wie verschieden mein Verständnis dieser Texte von dem vieler anderer Leser ist. Entweder ich verstehe diese Texte völlig falsch – oder viele andere Leser…

Oder dieses Reden vom falschen oder richtigen Verstehen ist selbst ein Irrweg. Vielleicht gibt es gar kein richtiges Verstehen, welches ein Maßstab für die Verständlichkeit eines Philosophen wäre. Vielleicht gibt es nur den glücklichen Moment, in dem ein philosophischer Text mein eigenes Denken in einer Weise anregt, dass mir selbst etwas einsichtig wird. Ein philosophischer Text wäre dann verständlich, wenn er mir hilft, etwas zu verstehen, nicht einmal unbedingt den Text selbst, sondern eine grundsätzliche Eigenschaft meiner Welt.

Ein Philosoph versucht mit seinem philosophischen Schreiben ja zumeist erst einmal, sich selbst eine schwierige Sache verständlich zu machen. Das mag merkwürdig klingen, weil viele Menschen vielleicht erwarten, dass ein Text, der veröffentlicht wird, etwas darstellt, was dem Schreiber beim Schreiben schon klar gewesen ist. Vielleicht wäre es besser, sich von diesem Gedanken zu lösen und sich vorzustellen, dass man beim Lesen eines philosophischen Textes dem suchenden Weg eines Denkens folgt. „Wege, nicht Werke“ hat der alte Heidegger kurz vor seinem Tod als Motto für die Gesamtausgabe seiner Schriften, Notizen und Vorlesungen notiert. Und Wittgenstein, der nach dem Tractatus nichts mehr veröffentlicht hat? Seine „Werke“, Aneinanderreihungen von nummerierten thesenhaften Gedankenketten, sind vielleicht die ehrlichste Form philosophischer Literatur. Denn bei in diesen Texten sieht man am besten, wie ein Denken immer wieder zu neuen Fragen kommt, immer wieder neue Fälle und Beispiele hinzuzieht, um Klarheit zu gewinnen. Viele andere Philosophen geben offenbar dem Wunsch nach, das Geschriebene als eine Darstellung eines Ergebnisses ihres Denkens zu präsentieren, obwohl es doch, genau genommen, zumeist ein Protokoll dieses Denkens ist. Bei Heidegger sieht man da sehr schön in den Vorlesungen, empfehlenswert ist hier natürlich zum Einstieg die Vorlesungsreihe „Was heißt Denken?“

Philosophisches Denken ist ein Kreisen um schwierige Fragen, die so schwierig sind, weil sie die Grundlagen und Voraussetzungen des Selbstverständlichen und Alltäglichen zum Gegenstand nehmen. Immer wenn jemand sagt: „Das ist doch klar!“ antwortet der Philosoph „Ist das wirklich klar? Warum ist das klar?“ Die Antworten darauf können zunächst gar nicht klar sein, sie können nur klar werden, wenn man sich als Leser darauf einlässt, dem Nachdenken denkend zu folgen. Dabei muss man bedenken, dass der Philosoph, dessen Denken man folgen will, ja schon eine Menge vorgedacht hat – und dass er all dieses Vorgedachte auch nicht so einfach auf einen simplen Punkt bringen kann, ist auch verständlich. Man muss sich mühen, man muss sich hineindenken, man muss als Leser vor allem auch nachsichtig sein mit dem Philosophen, der sich mit einer großen Frage quält.

Und doch ist die Forderung nach Verständlichkeit auch selbst wieder – verständlich. Denn es geht eben in der Philosophie um die Grundlagen und Voraussetzungen unserer alltäglichen Selbstverständlichkeiten – und da sollten die Versuche, diese aufzuklären, doch irgendwie auch für die verständlich sein, die in diesen alltäglichen Selbstverständlichkeiten leben oder gar gefangen sind. Das sollte man tatsächlich von den Philosophen fordern – und das sollte jeder, der sich für einen Philosophen hält, auch von sich selbst fordern. Natürlich kann ich als Philosoph auch sagen: Ich suche nur nach Klarheit für mich selbst, ich will nur mir selbst die Welt verständlich machen, und wenn es andere lesen wollen, schön, aber eigentlich ist es nicht meine Sache, dass sie das auch verstehen. Aber wer der Meinung ist, als Philosoph auch Verantwortung zu haben, der muss sich um Verständlichkeit bemühen. Die meisten Philosophen, die ich gelesen habe, bemühten sich redlich darum, verständlich zu sein. Aber es ist eben nicht einfach. Deshalb sollten Leser auch nachsichtig sein – und sich ihrerseits selbst bemühen, den Gedanken der Philosophen nachzudenken, um sich die Welt verständlich zu machen. Denn letztlich kommt es nicht darauf an, einen Philosophen zu verstehen, sondern die Welt, in der wir leben. Zu einfache Erklärungen und Antworten sollten uns angesichts der Komplexität dieser Welt eher misstrauisch machen. Verstanden hat man die Welt vielleicht erst, wenn man – mit Hilfe der schwer verständlichen Philosophen – verstanden hat, wie schwer verständlich die Welt eigentlich ist.

Jörg Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er schreibt und spricht vor allem über technik-und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik). In seiner monatlichen Kolumne »Reflexe« reflektiert er über einen aktuellen philosophischen Ansatz und lädt zum kritischen Weiterdenken ein.

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