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Reflexe #7: Gegen Epistokratie

Jörg Friedrich sichtet für seine Kolumne »Reflexe« aktuelle philosophische Bücher und Strömungen. Heute setzt er sich kritisch mit den Thesen des US-amerikanischen Philosophen Jason Brennan auseinander, dessen Buch »Gegen Demokratie« kürzlich erschienen ist. 

Jason Brennan ist Amerikaner, und vielleicht muss man sein Buch „Gegen Demokratie“ deshalb mit einer gewissen Nachsicht lesen, auch wenn 2016, also das Buch im Original erschien, der amerikanische Präsident noch Obama und nicht Trump hieß. Die deutsche Fassung erschien im April diesen Jahres, da war der neue Präsident schon im Amt, und viele, vermutlich auch der Autor selbst, werden das Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahl als Bestätigung der Hauptthese des Buches sehen: die Demokratie führt dazu, dass die falschen Leute an die Macht kommen, und diese falschen Leute treffen die falschen Entscheidungen, sodass die Ergebnisse demokratischer Politik schlecht für die Bürger sind, die von ihr betroffen sind.

Politik nach ihren Ergebnissen beurteilen

Kurz gesagt, geht Brennans Argument so: zunächst mal ist die Demokratie kein Wert an sich, ihr Wert besteht nicht darin, dass sich darin irgendwie die Menschenwürde oder die Freiheit der Bürger ausdrücken. Demokratie hat, wie jedes politische System, ausschließlich einen instrumentellen Wert, sie muss nach ihren Ergebnissen beurteilt werden und diese Ergebnisse sind schlecht.

Den Grund dafür sieht Brennan darin, dass die Wähler, die letztlich durch ihre Stimmabgabe die politische Macht ausüben, inkompetent und uninformiert sind, sie haben keine Ahnung von den politischen und ökonomischen Zusammenhängen, sie wissen nichts über die Fähigkeiten und Ziele der politischen Akteure und sie sind daran auch überhaupt nicht interessiert. Somit lassen sie sich bei ihrer Wahlentscheidung von unwesentlichen Aspekten leiten, sie lassen sich von Demagogen verführen und wählen Leute, die schlechte Politik machen.

Daraus folgt für Brennan, dass man das allgemeine Wahlrecht abschaffen sollte. Nur diejenigen, die eine gewisse Kompetenz in politischen Dingen nachweisen können, sollten sich am politischen Entscheidungsprozess beteiligen dürfen. Brennan möchte die Demokratie durch eine Epistokratie, eine Herrschaft der Wissenden, ablösen.

Das Buch ist voll mit empirischen Belegen, Sammlungen von Fakten, die Brennans Urteil über die Unfähigkeit des Wahlvolks bestätigen sollen. Er baut seine Argumentation zudem so auf, dass er immer wieder mögliche Gegenargumente aufführt und alsbald, entweder durch Analyse oder durch weitere empirische Belege, entkräftet. Dadurch bekommt der Leser bald den Eindruck, hier würde eine zwingend richtige politische Theorie dargelegt werden. Und trotzdem ist sie völlig falsch. Und das liegt nicht an den empirischen Daten, die Brennan sammelt (auch wenn man fragen kann, ob das, was er über die amerikanischen Verhältnisse schreibt, wirklich auf alle aktuellen politischen Ordnungen, die heute mit dem Begriff Demokratie gekennzeichnet werden, übertragbar ist). Dass Brennan völlig falsch liegt, heißt auch nicht, dass auch nur eine seiner Schlussfolgerungen und Argumentationen falsch wäre. Brennan irrt sich deshalb so gewaltig, weil seine zwei Grundannahmen über politische Systeme im Allgemeinen und über die Demokratie im Besonderen falsch sind.

Brennan meint, wir sollen die Demokratie nach ihren Ergebnissen beurteilen. Das mag sogar richtig sein. Aber wie sieht diese Beurteilung konkret aus? Wie lässt sich das Ergebnis von Politik irgendwie objektiv messen? Brennan bleibt bei dieser eigentlich so zentralen Frage im Ungefähren. Ein Gewinn an bürgerlichen Freiheiten soll die Politik sichern, Gerechtigkeit soll sie bringen, sie soll irgendwie einfach auf die politischen Fragen die richtigen Antworten bringen und die richtigen Maßnahmen umsetzen.

Man wird nicht lange nachdenken müssen um darauf zu kommen, dass die Menschen die Frage danach, was die richtigen Ergebnisse der Politik seien, sehr unterschiedlich beantworten werden. Brennan meint wahrscheinlich, dass man auch diese Frage gar nicht allen Menschen in gleichem Maße stellen, zumuten oder anvertrauen sollte. Wahrscheinlich hat er die Hoffnung, dass wissende, kompetente Leute mit ausreichender Ausbildung in Volkswirtschaftslehre und Politologie diese Frage im Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen eindeutig beantworten könnten. Daran kann man allerdings zweifeln, wenn man allein die Aussagen der so genannten Wirtschaftsweisen miteinander vergleicht. Das bedeutet, dass die Frage, welche Politik gut und richtig ist, welche Ergebnisse besser sind als andere, niemals außerhalb der politischen Sphäre selbst beantwortet werden kann.

Was ist die Funktion des politischen Systems?

Man kann Brennan sogar zustimmen, dass die Politik nach ihren Ergebnissen beurteilt werden soll, danach, ob sie funktioniert. Aber diese Ergebnisse sind nicht die politischen Maßnahmen, die konkret umgesetzt werden, nicht irgendwelche Veränderungen von ökonomischen Kennzahlen, nicht die Erhöhung des allgemeinen Wohlstandes, die Senkung der Arbeitslosigkeit und auch nicht die Abschwächung des Klimawandels – auch wenn all diese Dinge wünschenswert sind und die Politik sich bemühen sollte, darauf hin zu wirken. Wie Brennan selbst schreibt, lassen die absolut gemessenen Zahlen für all diese Entwicklungen ohnehin kein einfaches Urteil über die Politik zu, da diese ja immer von vielen Entwicklungen außerhalb der Politik abhängen.

Die Funktion des politischen Systems besteht einzig darin, den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten. Dafür ist wichtig, dass der Wohlstand möglichst erhalten bleibt, dass die Arbeitslosigkeit erträglich ist, dass der Klimawandel nicht zur Katastrophe wird. Dafür ist aber vor allem wichtig, dass die Menschen das politische System alles in allem akzeptieren, und dass sie sich in diesen berücksichtigt fühlen. Die Bürger müssen das Gefühl haben, dass das politische System sie mit ihren Wünschen und Sorgen ernst nimmt, und dass es einen Weg bietet, ihre Ziele und Ansprüche zu artikulieren und – sicherlich im Rahmen eines Machtkampfes – auch durchzusetzen. Und weil die Demokratie das kann, ist sie einer Epistokratie vorzuziehen. Die Experten mögen ja der Meinung sein, dass ihre Vorschläge für politische Maßnahmen auch für die Bürger die richtigen seien, sie sind aber die falschen, wenn die Bürger nicht die Möglichkeit haben, ihr Misstrauen gegen die Experten zur Geltung zu bringen. Denn dann bleibt den Bürgern nur der Weg in den Aufstand, in die radikale Ablehnung des ganzen politischen Systems.

Brennan meint, dass der einzelne Bürger jedoch ohnehin keinen Einfluss hat, da er ja nur seine Stimme bei der Wahl abgeben kann. Und hier findet sich Brennans zweite falsche und fatale Grundannahme. Für ihn ist Demokratie, zur Wahl zu gehen, und sonst nichts. Bürger und Politiker stehen sich bei Brennan als zwei Sorten von Menschen gegenüber, die nichts miteinander zu tun haben. Politische Partizipation besteht für ihn darin, alle paar Jahre ein Kreuz auf einem Wahlzettel zu machen.

Vielleicht scheint hier ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Variante der Demokratie auf (auch diese Klassifikation ist natürlich extrem vereinfacht, aber hier fehlt der Platz, weiter zu differenzieren).

Was ist das Wichtigste an der Demokratie?

Die wichtigste Komponente der Demokratie ist nicht die allgemeine und freie Wahl, sondern die Tatsache, dass es jedem Bürger möglich ist, sich einer politischen Partei anzuschließen oder auch eine neue Partei zu gründen, um darin an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Gerade in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Demokratien, haben wir in letzter Zeit die lebendige Dynamik des Parteiensystems erleben können. Innerhalb bestehender Parteien haben völlig neue Politiker Einfluss gewinnen können. Parteien ändern ihren Charakter und ihre politische Ausrichtung. Neue Parteien entstehen und ziehen in die Parlamente ein. All das zeigt den Bürgern: das demokratische System des Parlamentarismus mit den politischen Parteien als Organen der Willensbildung bietet die Möglichkeit, politischen Willen zu artikulieren. Es ist nicht notwendig, Ministerien zu stürmen und Barrikaden zu bauen.

Und wer will, tritt selbst einer Partei bei und beteiligt sich dort an den Prozessen der Programmdefinition, versucht, in politische Ämter zu kommen, selbst Politiker zu werden. Diese Möglichkeiten bietet die Demokratie und solange die Bürger diese prinzipiellen Möglichkeiten als real ansehen, arrangieren sie sich mit den Ergebnissen der Politik, auch wenn sie sie für sich selbst nicht als ideal ansehen.

Das Interessante ist, dass das System der parlamentarischen Parteiendemokratie genau das gewährleistet, was Brennan eigentlich will: dass sich am Ende kompetente und informierte Bürger am politischen Prozess beteiligen. Denn wer in eine Partei eintritt, merkt schnell, dass er lernen muss, zu verstehen was vorgeht, um sich in den Prozess der Willensbildung wirklich einbringen zu können und um andere überzeugen zu können. Diese Verfahren streift Brennan zwar mit einem kurzen Blick, tut sie aber schnell ab. Vielleicht hätte er sich etwas genauer mit den realen Prozessen in europäischen Parteien und Parlamenten beschäftigen sollen, statt beim amerikanischen Klischee stehen zu bleiben (inwiefern seine Beschreibung der amerikanischen Verhältnisse der Realität entspricht, kann hier nicht beurteilt werden). Er hätte dann bemerkt, dass der Parlamentarismus europäischer Prägung die Möglichkeiten längst bietet, die er sich von der Epistokratie erhofft. Diesen Parlamentarismus in einem Feldzug „Gegen Demokratie“ gleich mit zu bekämpfen, dürfte Brennas Zielen eher schaden als nützen. Vielmehr käme es darauf an, aus der durchaus bedenkenswerten empirischen Faktenlage die richtigen Schlüsse für eine behutsame und differenzierte Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie zu ziehen.

Jörg Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er schreibt und spricht vor allem über technik-und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik). In seiner monatlichen Kolumne »Reflexe« reflektiert er über einen aktuellen philosophischen Ansatz und lädt zum kritischen Weiterdenken ein.

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