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Na logisch! Die Derailment-Taktiken, Teil 1

Daniel-Pascal Zorn schreibt in seiner Kolumne Na logisch! über Logik, Rhetorik und Argumentationstheorie.
Folge 19: Die Derailment-Taktiken, Teil 1

Wenn zwei Boxer in einem Ring aufeinander losgehen, dann sieht es im ersten Moment so aus, als wollten sie einander fürchterlich verprügeln. Vor dem Kampf werden Sprüche geklopft, wird der Gegner mit Spott und Häme überzogen. Die Kämpfer tauschen wilde Blicke aus oder üben sich in ignoranter Verachtung. Sobald beide dann aber im Ring einander gegenüberstehen, wird klar: Auch diese beiden Muskelpakete folgen bestimmten Regeln. Es gibt einen Ringrichter, der darüber wacht. Ihm müssen beide Kämpfer einen fairen Kampf versprechen. Es gibt eine Jury, die den Kampf genau beobachtet und nach einem festgelegten Schema Punkte verteilt.

In einer Diskussion verteilt niemand Punkte. Sicher – mit einiger rhetorischer Begabung kann man versuchen, das stille Publikum auf die eigene Seite zu ziehen. Aber letztlich entscheidet sich eine Diskussion nicht durch den Applaus des Publikums, sondern durch das bessere Argument. Das überträgt den beiden Dialogpartnern, die gemeinsam über eine These diskutieren, eine große Verantwortung: sie müssen beide „zugleich Richter und Redner sein“, wie Sokrates in Platons Politeia betont.

Trotz dieses Anspruchs des besseren Arguments setzen sich in Diskussionen immer wieder rhetorische Strategien durch, die nicht nach der Lösung des gemeinsamen Problems, sondern nach der Überwindung des Gegners streben. Bisher wurden in dieser Kolumne vor allem Fehlschlüsse angesprochen, also Denkfehler, die sich aus falschen Schlussfolgerungen oder falschen Prämissen ergeben. Es gibt aber einen weiten Bereich der rhetorischen Techniken, die ganz bewusst eingesetzt werden können, um eine Diskussion zum Entgleisen, engl. ‚derailment‘ zu bringen. Sie entsprechen in der Metapher des Boxkampfes dem Kampf ohne Richter und Jury, dem Werfen mit Sand in die Augen des Gegners, dem verbotenen Einsatz von Gegenständen. Derailment-Taktiken zielen nicht auf die Sache, sondern auf den Sieg, selbst wenn er unfair und schmutzig erkämpft wurde.

Fairness ist in einer Diskussion zuallererst eine logisch, keine moralische Kategorie

Der Ruf nach Fairness klingt freilich nach Moral und Verletzlichkeit. Wer Fairness einfordert, so ein oft gefälltes Urteil, ist nur zu schwach, um im echten Kampf zu bestehen. ‚Wer fair kämpft, hat schon verloren‘ – nach diesem Motto legitimieren die Polemiker unter den Rhetorikern sich selbst dazu, zugleich Kämpfer und alleiniger Richter zu sein. Was ein „echter Kampf“ ist, das legen natürlich sie fest. Auch, wer „zu schwach“ ist, um ihn zu „bestehen“. Der Weg dieser Polemiker, die sich selbst für rhetorisch unschlagbar halten, ist erstaunlicherweise gepflastert mit fortlaufenden Zeichen und Gesten ihrer Autorität.

Sie übersehen dabei allerdings, dass ‚Fairness‘ in einer Diskussion zuallererst eine logische, keine moralische Kategorie ist. Das geht bis auf Platons Dialog Gorgias zurück: Nicht weil eine dogmatische Moral es ihm gebietet, würde er sich schämen, sagt Sokrates. Sondern wenn er es nicht schaffen würde, sich im Argument selbst zu helfen, mit sich selbst übereinzustimmen. Das Kriterium für ‚Fairness‘ ist nicht Moral, sondern Konsistenz.

Dass Derailment-Taktiken nicht konsistent sein können, zeigt sich schon an einer ganz einfachen Überlegung: Wer eine Diskussion führt, um genau diese Diskussion entgleisen zu lassen, der widerspricht sich selbst. Wer diesen Widerspruch vor sich verbirgt oder ihn für sich irrelevant macht, weil er sich selbst und allen anderen im Entgleisenlassen der Diskussion beweisen will, wie mächtig er ist, scheint diesen Beweis nötig zu haben. Dieses Grundproblem gilt für die meisten Derailment-Taktiken:

Die Ablenkung: Die einfachste Derailment-Taktik besteht darin, das Gegenüber ständig vom Thema abzulenken. Das kann durch höfliche Zwischenfragen oder Zwischenbemerkungen ebenso geschehen wie durch einen aggressiven Fragezwang. Letzterer hat den scheinbaren Vorteil, dass der Befragte in eine Art performative Beweislastumkehr gedrängt wird. Wer allerdings ständig das Thema ändert, der zeigt damit irgendwann auch an, dass er genau das tut. Das hat mit dem Ad-nauseam-Affekt von Redehandlungen zu tun: Wer etwas oft genug wiederholt, der lenkt die Aufmerksamkeit vom Inhalt weg auf das, was wiederholt wird.

Das Antwortdiktat: Stellt jemand die Strategie der Ablenkung fest, so besteht eine mögliche Gegenmaßnahme darin, ihm die Richtung seiner Antwort zu diktieren. Auch diese Taktik funktioniert mit einer impliziten Annahme und kann daher bis zu einem gewissen Grad versuchen, sich selbst zu schützen. Sie basiert auf dem Anspruch, die Kriterien einer Diskussion für das Gegenüber festlegen zu können. So kann z. B. der Hinweis auf Fehlschlüsse mit der Bemerkung abgelehnt werden, man habe sich nicht auf ‚den Inhalt‘ bezogen. Dahinter steht die Prämisse ‚Wer diskutiert, der darf sich nur auf den Inhalt beziehen‘. Weil ein Antwortdiktat ein dogmatischer Geltungsanspruch ist, muss ihn allerdings niemand akzeptieren.

Das Verschieben des Torpfostens: Anders als die Ablenkung, die das Thema selbst zu verschieben versucht, versucht diese Taktik den Bereich der Thematisierung ständig neu zu bestimmen. Geht eine Diskussion bisher über Perserkatzen, wird der Anwender dieser Taktik irgendwann darauf verweisen, dass das aber nicht für alle Katzen gilt. Logisch kombiniert er damit die Argumentation gegen ein nicht gehaltenes Argument mit einem Argument ex silentio. Das Argument gegen ein nicht gehaltenes Argument bzw. der Beweis einer anderen These als der, die gerade diskutiert wird, nennt man auch Ignoratio elenchi, das Ignorieren des Gegenarguments.

Es ist aber auch möglich, dass hier ein mereologischer Fehlschluss involviert ist: Wer über ‚Muslime‘ spricht, aber ‚Islamisten‘ meint, kann den Versuch machen, durch Verschieben des Torpfostens vom Ganzen auf einen kleinen Teil neue Sprachregelungen zu etablieren, die darauf zielen, Muslime insgesamt zu diskreditieren.

Wer Autorität simuliert, wird seine Aussagen grundsätzlich kategorisch formulieren

Die Autoritätssimulation: Ein Klassiker der Management-Rhetorik lautet: ‚Tritt mit Autorität auf, dann wird deine Autorität auch anerkannt‘. Die Autoritätssimulation setzt darauf, dass autoritäres Auftreten und kategorische Behauptungen das Gegenüber einschüchtern und den Gegner aus der Deckung locken. Wer Autorität simuliert, wird also seine Aussagen grundsätzlich kategorisch formulieren, im Modus eines dogmatischen Fehlschlusses: ‚Alle Politiker sind korrupt.‘ ‚Das Auto ist die größte Bedrohung der Menschheit.‘ ‚Logik ist nutzlos.‘ Solche Aussagen werden oft verbunden mit Bekräftigungsgesten wie ‚Tatsache ist…‘, ‚Fakt ist…‘ oder auch ‚Es ist doch so, dass…‘

Der Simulation von Autorität geht es nicht um das Argument, sondern darum, dem Gegenüber als der zu erscheinen, der etwas auch für ihn festzulegen hat. Sie nutzt sich genau dann ab, wenn sie ständig eingesetzt wird – denn wer ständig darauf hinweisen muss, dass er eine Autorität ist, der ist keine. Und wer eine Diskussion damit beginnt, ihr Ergebnis festzulegen, der führt sie nicht, sondern geht ihr aus dem Weg.

Die Ironisierung: Ironie ist, wenn man sie maßvoll einsetzt, eine rhetorische Tugend. Man kann sie aber auch benutzen, um sich gegen jede Form von Kritik zu immunisieren. Wer alles ironisiert, versetzt das Gegenüber in eine unmögliche Lage: Nimmt man die Ironisierung wörtlich, kann sich der Ironiker über das Nichtverstehen der Ironie lustig machen. Akzeptiert man sie, akzeptiert man die Bedingungen des Ironikers. Doch wer alles ironisiert, der hat genau dadurch die Ironie verraten. Die Doppeldeutigkeit der Ironie, ihre skeptische Seite, ist verräterisch. Wer alles ironisieren muss, zeigt genau dadurch an, dass er es muss. Der einzige Ausweg ist dann noch die Ironisierung der Ironie, also die Etablierung vollkommener Willkür. Nach außen hin soll es unentscheidbar wirken, ob etwas gerade ironisch oder ernst gemeint ist. Doch diesen Ausweg gibt es nur um den Preis eines Fehlschlusses ex silentio. Denn um diese Taktik zu schützen, kann man immer nur nachträglich darauf verweisen, wie es ‚eigentlich gemeint‘ war. Ironie wird dadurch zu einem Voluntarismus, einem etwas kraftlosen Versuch, den eigenen Willen ohne jede Pflicht zur Rechtfertigung durchzusetzen.

Beleidigung, Herabwürdigung, Diffamierung – im zweiten Teil (coming soon) geht es um Derailing-Taktiken, die mehr sind als bloßer ‚Hass‘ gegen Andersdenkende.

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