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Na logisch! Die Ad-nauseam-Argumentation

Kolumne über Logik, Rhetorik und Argumentationstheorie von Daniel-Pascal Zorn. Heute: Reden, bis der Arzt kommt – Die Ad-nauseam-Argumentation

Jeder, der schon einmal als Kind eine Abkürzung genommen hat, weiß: Es macht so viel mehr Spaß, mitten durch eine Wiese zu laufen, statt um sie herum. Je mehr Leute der Spur folgen, desto deutlicher wird sie und desto mehr eine Einladung für alle anderen, es ihnen gleichzutun. Manchmal, wenn ein schmaler zu einem breiten Trampelpfad geworden ist, bleibt dem Besitzer nichts anderes übrig, als ihn mit Kies aufzuschütten und damit ‚offiziell‘ zu machen. Das wiederholte Ablaufen immer derselben Strecke etabliert irgendwann eine Spur, die zum Weg wird.

Auf eine ganz ähnliche Strategie verlässt sich eine Argumentationsform, die nach dem üblen Gefühl benannt ist, das sich nach endloser Wiederholung desselben oft einstellt: ‚ad nauseam‘, lat. für ‚bis (zur) Übelkeit‘, benannt nach der Seekrankheit, die das endlose Schaukeln der Wellen bei Schiffspassagieren bisweilen hervorruft. Der Anwender einer Ad-nauseam-Argumentation macht sich nicht die Mühe, seine Behauptung mit einer Begründung zu versehen – er wiederholt sie einfach so lange, bis niemand mehr widerspricht.

Weil die Ad-nauseam-Argumentation nur die Argumentationsweise betrifft, tritt sie in ganz unterschiedlichen Formen auf: In Verbindung mit einem Argument ad ignorantiam kann sie sich etwa als Versuch darstellen, das Gegenüber in einen ständigen Antwortzwang zu verwickeln. Unter Vortäuschung von Interesse wird auf jede gegebene Antwort wieder eine Frage gestellt, während die gegebenen Antworten ignoriert werden. Schon im antiken Griechenland hatte eine Gruppe von Sophisten, die Megariker, diese Technik zur Perfektion gebracht: sie entwickelten Fangfragen, die entweder in endlose Frageschleifen führten oder aber das Gegenüber ratlos zurückließen. Konnte das Gegenüber keine Antwort mehr geben, erklärten sie sich für die Gewinner des Wortgefechts.

In der Gegenwart hat der Kreationist Duane Tolbert Gish einer ganz ähnlichen Strategie seinen Namen gegeben: dem ‚Gish-Galopp‘. Gish nutzte die Ad-nauseam-Argumentation, um in Debatten seinem Kontrahenten – meist einem Wissenschaftler – am laufenden Band Behauptungen zu präsentieren, die er mit rhetorischen Fragen durchsetzte und dabei ständig das Thema wechselte. Dabei dient der ‚Gish-Galopp‘ nicht nur dazu, die Antworten des Gegenübers unzureichend und unvollständig erscheinen zu lassen; gleichzeitig kann man durch ein freies Assoziieren, das auf den Wissenshorizont des Publikums abgestimmt war, sich selbst als kompetenter inszenieren. Entsprechend beliebt ist der ‚Gish-Galopp‘ bei Leuten, die mit einem assoziativen Fehlschluss alles Mögliche miteinander verbinden und dadurch Gelehrsamkeit vortäuschen.

Ständige Wiederholung wird ab einem gewissen Grad als Gewalt empfunden.

Unter die Ad-nauseam-Argumentation fallen auch alle Versuche, das Gegenüber durch ständiges Weiterreden zu übertönen, ihn nicht zu Wort kommen zu lassen oder ihn in einem Austausch der Form ‚Nein! – Doch! – Nein! – Doch!‘ zur Annahme der eigenen Sichtweise geradewegs zu zwingen. Ständige Wiederholung wird ab einem gewissen Grad als Gewalt empfunden. Gerade wenn man sich ihr nicht entziehen kann, scheint das Einlenken die beste Wahl zu sein. Das sorgt freilich nur dafür, dass der Anwender der Ad-nauseam-Argumentation sie als erfolgreich erlebt und immer wieder einsetzen wird.

Manchmal ist es aber auch der simple Zeitaspekt, der eine Ad-nauseam-Argumentation zu einem wirksamen Instrument werden lässt. Schon zu Zeiten der römischen Republik etwa war das sogenannte ‚Filibustering‘ als Methode bekannt, um zeitgebundene Entscheidungen hinauszuzögern oder ganz zu verhindern. So verhinderte Cato (d. Jüngere) durch seine Marathonreden wichtige Abstimmungen, indem er bis zum Abend redete, dem Zeitpunkt, an dem der Senat seine Sitzung beendete. Ein berühmter Leidtragender war Julius Caesar, der wegen einer solchen Marathonrede Catos einen Triumphzug nicht durchsetzen konnte.

Auch heutzutage wird ‚Filibustering‘ eingesetzt. So versuchte etwa der Senator Strom Thurmond 1957, den Civil Rights Act mit einer 24-stündigen Rede zu verhindern, in der er sämtliche verfügbaren Gesetzestexte und sogar die Kuchenrezepte seiner Großmutter wörtlich und ausführlich zitierte. Noch 2013 wurde durch einen ‚Filibuster‘ der Republikaner die Ernennung von Personen für Verwaltungsposten durch Präsident Obama verhindert.

Die Ad-nauseam-Argumentation setzt auf Durchsetzungskraft oder Stetigkeit in der Wiederholung. Wie das Beispiel mit dem Rasen zeigt, auf dem sich nach einigem Hin- und Herlaufen ein Weg bildet, gibt es aber noch einen anderen Aspekt der ständigen Wiederholung: die Herausbildung oder ‚Materialisierung‘ eines Weges, der durch die ständige Wiederholung geschaffen wird und der nachkommenden Läufern so erscheint, als sei er immer schon dagewesen. Natürlich sind Worte keine Füße und der öffentliche Diskurs ist kein Rasen. Und doch setzen sich auch hier Behauptungen, Vermutungen und Erzählungen durch, einfach deswegen, weil sie von vielen Menschen wiederholt oder geteilt werden.

Diesen Effekt kann man – nach dem hier bereits behandelten Fehlschluss – den ‚Ad-populum-Effekt‘ der Ad-nauseam-Argumentation nennen: Je mehr Menschen eine Behauptung wiederholen, desto schlüssiger und wahrer erscheint sie. Bekannt wurde dieses Phänomen seit den 80er Jahren unter dem Titel der ‚urban legends‘: Dazu zählen modernisierte Märchenerzählungen ebenso, wie Horror- oder Gruselgeschichten, die sich ihren Weg durch den öffentlichen Diskurs bahnen. Berühmte Beispiele sind wilde Tiere in modernen Umgebungen, wie das Krokodil, das in der Kanalisation haust oder die Vogelspinne, die mit Südfrüchten rund um die Welt reist und dann ahnungslose Genießer erschreckt. Typische Figuren in ‚urban legends‘ sind unheimliche Fremde – Anhalter oder Handelsreisende –, die plötzlich verschwinden oder sich als Serienmörder herausstellen. ‚Urban legends‘ sind so quasi die Mythen von heute, die unterhalb der Faktenschwelle die Wirklichkeit sehr viel spannender und geheimnisvoller erscheinen lassen.

Aus einer Zeitungsmeldung entsteht in wenigen Stunden eine Horrorbotschaft.

Mit Diskussionen in Internetforen seit Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre hat die Gerüchteküche der ‚urban legends‘ ein eigenes Medium gefunden, das die Anonymität der User mit einer Infrastruktur verbindet, die unzählige Menschen erreicht. Richtige Durchschlagskraft hat die ständige Weiterverbreitung von Behauptungen und Erzählungen aber erst durch die sozialen Netzwerke wie Facebook, YouTube oder Twitter erfahren. Dort gepostete Nachrichten können in wenigen Stunden Millionen von Usern erreichen – und beeinflussen. Ohne eine vernünftige Selbstkontrolle, was den eigenen Konsum von Informationen im Netz angeht, ist man dieser Flut von frei verfügbaren Inhalten ausgeliefert.

Entsprechend leicht verbreiten sich nicht nur ‚urban legends‘, Gerüchte oder Verschwörungstheorien, sondern auch Hetze gegen alles, was nicht der eigenen Weltsicht entspricht. Aus einer Zeitungsmeldung entsteht in wenigen Stunden eine Horrorbotschaft, weil Fakten weggelassen oder hinzugedichtet werden, ein faktischer Kern mit sensationellen Fiktionen umgeben wird. Durch die endlose Wiederholung derselben Unwahrheiten, teilweise sogar durch etablierte Medien, erscheinen solche Behauptungen und Erzählungen als Gemeinplatz. Wenn jeder den anderen bestätigt, dann muss doch etwas dran sein, oder?

Doch die endlose Wiederholung einer Behauptung ist kein Ersatz für ihre Begründung. Auch wenn die Masse der falschen Behauptungen, die ‚bis zur Übelkeit‘ auf Facebook & Co. geteilt werden, einen überwältigt: sie folgen doch alle einem ähnlichen Schema: Eine unerwartete Bedrohung – die Verantwortlichen machtlos oder irgendwie darin verstrickt – ein Ruf nach der starken Hand, die das wieder in Ordnung bringt.

Wir sollten uns nicht durch die endlose Wiederholung abschrecken lassen. Manchmal reicht ein einfacher Hinweis, um die Selbsthypnose abzubrechen, in die die Ad-nauseam-Argumentation ihren Anwender mitunter führt: Auch wenn wir es hundertmal behaupten – bloß durch Wiederholung der Behauptung wird aus einer Mücke noch kein Elefant.

 

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