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HOHE LUFTpost – Kunst, Kontext und Jan Böhmermann

HOHE LUFTpost vom 15. April 2016: Kunst, Kontext und Jan Böhmermann

Vor hundert Jahren vollbrachte Marcel Duchamp ein Wunder: Er hob ein gewöhnliches Pinkelbecken (unbenutzt) auf einen Sockel – und es ward Kunst. Mit seinen »Readymades« stürzte er die Kunst in eine Krise, die zu einem gründlich neuen Verständnis dessen führte, was Kunst überhaupt ist. Eine der Lehren von damals war, dass alles vom Kontext abhängt. Von zwei physikalisch gleichen Objekten kann eines ein Kunstwerk und das andere nicht, nur weil wir unterschiedlich mit ihnen umgehen.

Nun hat Jan Böhmermann mit seinem Gedicht auf Recep Erdoğan wieder eine Krise ausgelöst, diesmal vor allem eine politische. Doch es geht auch wieder ums Prinzip, und es geht wieder um Kontext. Wer die Originalsendung, eine vom ZDF alsbald aus seiner Mediathek gelöschte Folge von Böhmermanns Neo Magazine Royale, gesehen hat, dem war klar: Böhmermann ging es vor allem darum, die Möglichkeiten und Grenzen von Satire auszuloten – ganz ähnlich wie es einst Duchamp mit der bildenden Kunst getan hatte. Was er versuchte, war eine drastische Demonstration des Rechts auf freie Meinungsäußerung, das in Deutschland deutlich besser geschützt ist als in der Türkei.

Vom Wortlaut des Gedichts fühlt Erdoğan sich also beleidigt. Verständlich. Der Text überschüttet ihn mit Schimpfworten. »Er ist der Mann, der Mädchen schlägt, und dabei Gummimasken trägt« – was ist beleidigend, wenn nicht das? Böhmermann selbst schickte seiner Gedichtlesung voraus, dass nun ein Stück unzulässige Schmähkritik komme. Der Rahmen der Satire-Sendung ist das Äquivalent zu Duchamps Sockel. Der literarische Wert des Gedichts mag noch so gering sein – darauf kommt bei der Frage, ob es Kunst ist, ebensowenig an wie auf die Verarbeitungsqualität des Duchamp’schen Pissoirs. Auch ein Schrottgedicht ist Kunst.

Wir leben in einem Staat, der Künstlern viel Freiheit lässt. Aber Künstler tragen auch Verantwortung für die Wirkung ihrer Werke. Nimmt man Böhmermann beim Wort, so kann man ihm unterstellen, dass die beleidigende Wirkung beabsichtigt war. Ich hoffe daher, dass die deutschen Gerichte sich nun der Sache annehmen – und auch deutlich machen, dass in unserem Staat auch ein Erdoğan seine Rechte hat. Das wäre kein Demutsgeste, sondern ein Zeugnis der Souveränität.

Doch das Gedicht blieb nicht im Kontext jener Satiresendung. Es wurde im Netz unzählige Male kopiert, zitiert, übersetzt und kommentiert. So wurde daraus eine nackte Schmähung – so wie Duchamps Fountain sich in ein bloßes Pissoir zurückverwandeln würde, sobald man es von seinem Sockel nehmen und ins Schaufenster eines Geschäfts für Sanitärbedarf legen würde. Was blieb, war reichlich Häme und Empörung, und kaum noch Satire. Die allermeisten Menschen lasen oder hörten es außerhalb seines ursprünglichen Kontextes. Dafür ist Jan Böhmermann nicht verantwortlich zu machen. Sehr wohl jedoch war Recep Erdoğan daran beteiligt, der die Sache viel höher spielte, als nötig gewesen wäre.

– Tobias Hürter

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