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Na logisch! Das Slippery-Slope-Argument

Die Logik-Kolumne von Daniel-Pascal Zorn. Heute: Das Slippery-Slope-Argument.

Im Sommer 2015 warnte die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer vor der ‚Homo-Ehe‘, der Einführung des Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare, indem sie auf die Folgen einer Veränderung des bisherigen Verständnisses von Ehe verwies: „Wenn wir diese Definition öffnen in eine auf Dauer angelegte Verantwortungspartnerschaft zweier erwachsener Menschen, sind andere Forderungen nicht auszuschließen: etwa eine Heirat unter engen Verwandten oder von mehr als zwei Menschen.“ Mit dieser Einschätzung ist sie nicht alleine. Auch in den USA warnten radikal-konservative Politiker wie Rick Santorum vor der Legalisierung der ‚same-sex-marriage‘ mit dem Argument, dann könne jeder jeden heiraten, auch fünf Menschen. Einige Kommentatoren wollten sogar Ehen zwischen Menschen und Tieren nicht mehr ausschließen.

Was diese Argumente vereint, ist dieselbe Art und Weise der Schlussfolgerung: Wenn wir A erlauben, dann folgt zwangsläufig B, dann C, … und so weiter, bis wir dann irgendwann bei Z landen. Wenn A – dann Z. Und da Z ein absurder, gefährlicher oder sonstwie nicht wünschenswerter Zustand ist, dürfen wir A nicht erlauben. Die Schlussfolgerung etabliert also eine ‚schiefe Ebene‘ oder einen ‚rutschigen Abhang‘, auf Englisch ‚slippery slope‘, auf dem man abzurutschen droht.

Wir kennen solche Argumente auch aus anderen Zusammenhängen, etwa der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Die vielen Flüchtlinge, warnt man uns, seien nur der Anfang. Die Welle von Menschen aus uns fremden Kulturkreisen würde unsere Kultur, unseren gesellschaftlichen Frieden, am Ende sogar die Handlungsfähigkeit des Staates bedrohen. Bürgerkriegsgemälde werden in düsteren Farben gemalt; der Reichstag versinkt in einer Sturmflut. ‚Wehret den Anfängen!‘ – wenn wir jetzt nicht handeln, wird uns suggeriert, dann wird unser ‚Volk‘ und unsere Kultur untergehen.

Ironischerweise ruft das Bild von der Flut – mitsamt ihrem Bilderreichtum: Schwemme, Wellen, Tsunamis – eine weitere Bezeichnung für den ‚slippery slope‘ auf: das Dammbruch-Argument. Wenn irgendwo ein Damm bricht, dann stürzt das aufgestaute Wasser unaufhaltsam ins Tal und reißt alles mit sich. Die Folgen sind grundsätzlich negativ, denn die Macht des Wassers ist zerstörerisch. Aus unserem Alltag kennen wir weitere Instanzen dieses Arguments: den berühmten ‚Domino-Effekt‘ etwa oder die Rede, ‚Hemmschwellen‘ würden insgesamt ‚herabgesetzt‘; manchmal wird es mythisch, wenn wir von der ‚Büchse der Pandora‘ sprechen, die geöffnet wird; manchmal sprechen wir aber ganz wörtlich aus, worin der Denkfehler dieser Schlussfolgerung liegt, wenn wir etwa von jemandem sagen, er sei ‚auf die schiefe Bahn geraten‘.

Denn diese ‚schiefe Bahn‘ ist etwas, das wir zu einem Ereignis dazu erfinden. Wir konstruieren einen kausalen Zusammenhang, indem wir mögliche Folgen – und seien sie noch so weit hergeholt – zu wahrscheinlichen oder sogar vorherbestimmten Folgen machen. Das Slippery-Slope-Argument ist ein Fehlschluss, weil er uns suggeriert, dass A notwendig zu B führen muss und B wiederum notwendig zu C, bis wir am unerwünschten Endpunkt Z angekommen sind. Dabei ist überhaupt nicht sicher, ob A wirklich zu B führt – und selbst wenn, müssten wir dann für jeden einzelnen weiteren Schritt – C, D, E, F usw. – nachweisen, dass sein Eintreten kausal oder logisch aus den vorangegangenen Schritten folgt. Eine bloß assoziative Verknüpfung dieser einzelnen Schritte reicht dabei ebensowenig als Nachweis aus, wie das Aufrufen extremer Beispiele oder die dramaturgische Ausgestaltung einer Geschichte, bei der einen der kalte Schauder über den Rücken fährt. Aber genau dieser Hang zur Ausgestaltung könnte uns einen Hinweis darauf geben, warum wir den Slippery-Slope-Fehlschluss so selten bemerken und er uns sogar sprichwörtlich geworden ist.

Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt schrieb in seinen Überlegungen zu seinem Stück Die Physiker gleich in Punkt 1: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Das heißt: Wir sind jeden Tag von ‚schiefen Ebenen‘ umgeben. Im Kino sehen wir die Abenteuer eines Helden, dessen Handlungen ihn vor immer größere Herausforderungen stellen oder der durch unglückliche Verwicklungen vor immer größere Probleme gestellt wird, bis er gegen den Bösewicht siegt – oder sich selbst verliert. Am Stammtisch diskutieren wir, welche unabsehbaren Folgen diese oder jene politische Entscheidung haben wird – wir fühlen uns von der Politik, die wir nicht verstehen, ins Ungewisse gestellt und alleingelassen. In den Medien, die wir täglich konsumieren, spielen Zuspitzung und offene, Zweifel schürende Fragen eine zentrale Rolle. Sie konfrontieren uns jeden Tag mit Cliffhanger-Effekten: Wie wird es ausgehen? Wird die Bedrohung weiter wachsen? Schaffen wir das wirklich, wenn es so weiter geht? Wir nehmen diese Fragen mit nach Hause und machen uns Sorgen: um unsere Familie, unsere Zukunft, unser Land. Wir malen uns die Folgen einer politischen Entscheidung aus – kann nicht der Schlag eines Schmetterlingsflügels einen ganzen Orkan entfachen? Seien wir ehrlich: Diese Geschichten sorgen und ängstigen uns nicht nur, sie geben uns auch eine seltsame Form von Sicherheit. Denn irgendwie wissen wir genau, wie sie ablaufen: Es wird immer schlimmer und schlimmer, bis dann jemand kommt, um uns zu retten – oder bis wir uns selbst retten.

Mit der Realität haben diese Geschichten aber meistens sehr wenig zu tun. Denn die Ereignisse stehen nicht fest; niemand kann vorhersehen, wann was wie genau passiert. Deswegen ist der Schluss von A auf Z, über die vielen kleinen Zwischenschritte B, C, D, E usw., ein Fehlschluss.

In den Slippery-Slope-Fehlschluss kann jeder geraten, sei es aus Unwissenheit, sei es deswegen, weil er oder sie oberflächliche Plausibilität momentan oder generell tiefgehender Überprüfung vorzieht. Aber weil der Slippery-Slope-Fehlschluss vor unabsehbaren oder negativen Folgen warnt, lässt er sich auch gut in rhetorischen Zusammenhängen instrumentalisieren. So kann, bei politischen Akteuren, die schlimmstmögliche Wendung einfach ein Mittel sein, um die eigene ideologische Überzeugung als den bereits genannten ‚Retter‘ aus größter Not zu inszenieren. Wer mit einem Slippery-Slope-Fehlschluss vor Unordnung und Chaos warnt, hat in solchen Fällen oft auch gleich ein Konzept zur Hand, wie eine Ordnung aussehen muss, damit es nicht ‚soweit kommt‘. Wer vor dem ‚Untergang der Kultur‘ warnt, der hat ein ganz bestimmtes Verständnis von ‚Kultur‘, das er für sich als ‚natürlich‘ oder ‚gottgegeben‘ festgelegt hat. Wer vor der Zukunft warnt, der verweist nicht selten zurück in die Geschichte – oder besser: in seine eigene Auffassung von Geschichte, die nach bestimmten Regeln ablaufe, gegen die man besser nicht verstößt. So dient der Slippery-Slope-Fehlschluss in letzter Instanz nicht nur der Erzeugung von Angst, sondern auch und vor allem der Verstärkung verabsolutierter ideologischer Konzepte.

Wir sollten uns aber nicht täuschen lassen: Ungewissheit ist nichts Schlimmes – und sie ist nie absolut. Es gibt immer Dinge, die wir wissen und solche, die wir nicht wissen. Geschichten von Bedrohungen, die im Ungewissen warten, sind so alt wie die Menschheit selbst. Wir sollten sie am Lagerfeuer erzählen und sie nicht unsere Politik bestimmen lassen.

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