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Was nützt die Nutzenfrage?

Prognosen über den Arbeitskräftemangel in Deutschland, verursacht durch den demografischen Wandel, begegnen einem gerade in den Beiträgen zur Flüchtlingsdebatte. Werden nicht in den nächsten Jahren tausende Arbeitskräfte aus dem Ausland hinzugezogen, haben wir hier höchstwahrscheinlich ein großes Problem, sagen die Zahlen. Sie werden von den Verfassern verwendet, um auf den volkswirtschaftlichen Nutzen hinzuweisen, den Deutschland aus denen ziehen kann, die hier Zuflucht suchen vor Krieg, Verfolgung, Hunger und Tod. Aber kann die Frage, welchen Nutzen Flüchtlinge bringen, dafür relevant sein, ob sie Hilfe verdienen?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich erst einmal klar darüber sein, was “Nutzen” bedeutet. Generell gesprochen ist etwas dann nützlich, wenn es ein vorteilhaftes Ergebnis bringt – in welcher Weise auch immer. Das Nutzenkalkül, verstanden als Abwägung zwischen Kosten und Gewinn, ist das ethische Werkzeug des Utilitarismus. Die Utilitaristen verstehen unter “Nutzen” dabei das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl der Beteiligten. Was das Glück in der Gesamtsumme vermehrt ist gut, was es mindert, ist schlecht.

Der Utilitarist könnte also vorbringen: Wer Flüchtlinge aufnimmt, sie schützt, willkommen heißt und angemessen versorgt, steigert deren Glück. Dazu sind ethnisch heterogene Gesellschaften offener, vielfältiger, toleranter und insgesamt etwas Wünschenswertes – vor allem langfristig und in einer globalisierten Welt. Außerdem brauchen wir ihre Arbeitskraft für unser Bruttoinlandsprodukt. Also ist Einwanderung ein großes Glück, das man begünstigen sollte.
Ein großes Problem des Utilitarismus ist aber, dass weder klar ist, wie sich objektives Glück messen lässt, noch wie sich individuelle Interessen auf das gefühlte Glücksbarometer auswirken. Wenn sich ausländerfeindliche Deutsche in ihrem Glück dadurch beeinträchtigt sehen, dass in ihrer Gegend ein Flüchtlingsheim eröffnet wird – wiegt dies dann genau so schwer wie das Leid der Flüchtlinge?

Utilitaristisch ließe sich genauso dafür argumentieren, keine Flüchtlinge aufzunehmen oder nur jene mit akademischer Bildung, die potentiell dazu geeignet sind, den Wohlstand des Landes zu steigern. Dieser gilt schließlich gemeinhin als Indikator für Glück. Gleichzeitig würde dies die Ängste der fremdenfeindlichen Bürger vor “Überfremdung” und “Asylmissbrauch”, die sich gerade in Deutschland Bahn brechen, besänftigen.
Dass der Utilitarismus weder einen Begriff der Menschenwürde in seine Berechnungen einbezieht, noch einen Schutz für Minderheiten gewähren kann, wurde ihm vielfach vorgeworfen. Das „größtmögliche Glück“ kann leicht instrumentalisiert werden, um Interessen durchzusetzen, die moralisch willkürlich sind. Darum bessern moderne Utilitaristen immer wieder nach und feilen an ihrem Ansatz herum, um ihm sein Image als gefühlskalte Aufrechnung zu nehmen.

Die Idee des größtmöglichen Glücks sieht auf den ersten Blick vielversprechend aus. Aber auf die Frage, was wir anderen Menschen moralisch schulden, und zwar ungeachtet ihres Beitrages zu irgendeinem Kontostand, sei er aus Glück oder aus Geld, liefert sie uns keine Antwort. Viele Flüchtlinge würden tatsächlich gerne in Deutschland arbeiten, wenn sie es dürften. Ihnen dies zu ermöglichen, wäre ein Gewinn für alle und ein wichtiger Schritt in Richtung Integration und Selbstbestimmung. Dennoch: Menschen in Not zu helfen, wenn wir es können, gehört nicht zu den Dingen, die wir deswegen tun sollten, weil wir uns etwas davon versprechen.

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Bayreuther Dialoge 2015: Nützlicher Mensch – Menschlicher Nutzen
Die Bayreuther Dialoge sind das Zukunfts-Forum für Ökonomie, Philosophie und Gesellschaft. Sie werden von Studierenden der Universität Bayreuth organisiert, jährlich zu einem Schwerpunktthema an der Schnittstelle von Philosophie und Ökonomie.
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