HOHE LUFT
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Nicht glauben – sondern wissen

Die Naturwissenschaften schicken sich an, uns die ganze Welt zu erklären. Die Lücken, die noch bleiben, werden von Jahr zu Jahr weniger. Das Übersinnliche, das früher zur Erklärung des Unerklärlichen herhielt, scheint ausgedient zu haben. Dennoch hebt sich in vielen Gesellschaften eine Tendenz zu einer neuen Spiritualität ab. Obwohl besonders Großstädter inzwischen Yoga, Meditation und andere Selbstübungen für sich entdeckt haben, wird das Ganze gerne als seichter Wellness-Trend abgetan, das mit der rationalen Disziplin der Wissenschaft nichts zu tun hat.

Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger hat sich in einem Essay mit dem vermeintlichen Gegensatz von Wissenschaft und Spiritualität auseinandergesetzt, um die Möglichkeit einer »säkularisierten Spiritualität« auszuloten. Er fragt sich:

»Gibt es eine Form von Spiritualität, die nicht selbstgefällig, klebrig oder kitschig ist, bei der man keinen intellektuellen Selbstmord begeht und deshalb auch nicht auf mehr oder weniger subtile Form seine Würde als kritisches rationales Subjekt verliert?«

Laut Metzinger darf eine zeitgemäße Auffassung von Spiritualität nicht im Gegensatz zu wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen, um von aufgeklärten Menschen gelebt werden zu können. Die neue spirituelle Lebensweise entspreche diesen Anforderungen, da sie auf Selbsterkenntnis gründe statt auf Hokuspokus oder einer doktrinären Lehre. »Spiritualität ist eine epistemische Einstellung. Spirituelle Personen wollen nicht glauben, sondern wissen« meint er. Daher sieht er auch Spiritualität nicht als Verwandte, sondern als Gegenteil der Religion an. Das gilt natürlich nur für bestimmte Formen der Spiritualität – Schamanismus oder andere Kulte, die ein Glaube an Übersinnliches beinhalten, gehören für Metzinger eher zu den Religionen.
Genauso wie Menschen in ihren rationalen, wissenschaftlichen Überzeugungen eine »intellektuelle Redlichkeit« anstreben, also nur das glauben möchten, wofür sie gute Gründe haben anstatt sich selbst etwas vorzumachen, dienen spirituelle Praxen, wie Meditation, der Möglichkeit, rational und kritisch über sich selbst nachzudenken.

Metzinger glaubt nicht, dass er seine eigene Frage hinreichend beantworten kann. Im Gegensatz zu anderen Philosophen versucht er nicht, einen rationalen Kern des Glaubens zu verteidigen. Er zeigt lediglich auf, dass Spiritualität nicht so weit von der wissenschaftlichen Motivation entfernt liegt, wie man annehmen könnte.
Beide gründen in dem Streben nach Wahrheit und Wissen: »Das gemeinsame Ziel ist das Projekt der Aufklärung, die systematische Erhöhung der eigenen geistigen Autonomie.« Es besteht also auch für die aufgeklärtesten Rationalisten noch die Hoffnung, sich spirituell betätigen zu können, ohne das Gesicht zu verlieren. Das ist doch – besonders kurz vor Weihnachten – eine gute Nachricht!

– Greta Lührs

 

VERANSTALTUNGSHINWEIS

Das philosophische Radio des WDR ist auf Tour. Moderiert von Jürgen Wiebicke
26. November in Aachen mit Heinz Bude
27. November in Nottuln mit Wolfgang Buschlinger
28. November in Bonn mit Thomas Metzinger

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