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Ohne Krise geht es nicht!

Seit drei Jahren betreibt Rene Tichy seine Philosophische Praxis „Verrückt nach Sokrates“ im 7. Wiener-Gemeindebezirk. Ganz sokratisch ist auch die Lage: Seine Praxis ist ein Gassenlokal, das jeden dazu einlädt, einzutreten. Über 30 Jahre war der studierte Philosoph Rene Tichy in der Wirtschaft tätig, bis er 2008 umschulte und sich bei Gerd B. Achenbach, dem Begründer der Philosophischen Praxis, zum philosophischen Praktiker ausbilden ließ.
HOHE LUFT-Redakteurin Christina Geyer hat Rene Tichy in seiner Praxis besucht und ihm einige Fragen zur Praxis der Philosophischen Praxis gestellt.

HOHE LUFT: Wo verorten Sie die Philosophische Praxis? Inwieweit lässt sie sich von Psychotherapie und Coaching abgrenzen?
RENE TICHY: Philosophische Praxis hebt die Einseitigkeit von Psychotherapie und Coaching auf. Es geht nicht ohne Psychologie und Therapie, aber das allein ist zu wenig. Philosophische Praxis konzentriert sich auf die Bewusstmachung des Bewussten – das Unbewusste überlassen wir den Therapeuten. Anders als Coaching ist Philosophie auch eine Kritik der Wünsche. Sie fragt, ob unsere Wünsche legitim sind und zu uns passen. Richtig wünschen muss man können, das ist gar nicht so einfach.

HOHE LUFT: Das historische Wörterbuch für Philosophie definiert Philosophische Praxis als professionell betriebene philosophische Lebensberatung, die das Denken in Bewegung setzt…
RENE TICHY: Das Herzstück der Philosophischen Praxis ist das Nachdenken über das eigene Denken. Sie will das Bewusstsein zum Bewusstsein bringen. Das hört sich erst einmal komisch an, aber wir denken und handeln oft aus einer Selbstverständlichkeit heraus. Die Philosophische Praxis überprüft diese Selbstverständlichkeit und hinterfragt Haltungen, Urteile und Überzeugungen. Insofern setzt sie das Denken in Bewegung, ja. Kritischer sehe ich das Wort „professionell“ – ich sehe philosophische Praktiker eher als philosophische Spezialisten für das Allgemeine, für das Gesamt-Menschliche.

HOHE LUFT: Welche Rolle spielt die Theorie in der Philosophischen Praxis und wie würden Sie ihr Verhältnis zur Praxis beschreiben?
RENE TICHY: Meine Theorie ist womöglich, dass ich keine habe. Die große Gefahr von Theorie ist, dass sie einem Menschen übergestülpt wird. Damit beschneidet man den Menschen und bleibt in der Theorie stecken. Der Einzelfall steht für mich deshalb vor jeder Theorie: Vorrang hat immer die individuelle Lebensgeschichte. Ich habe aber selbst erst lernen müssen, wie man das, was in Büchern steht, auf das Leben übertragen kann.

HOHE LUFT: Und wie macht man das?
RENE TICHY: Was mir erzählt wird, versuche ich mit Sokrates oder Hegel, mit Schopenhauer oder Kierkegaard zu verstehen.

HOHE LUFT: Wie wichtig ist dieses Verständnis in einer persönlichen Beratung?
RENE TICHY: Sehr wichtig, denn um Verständnis geht es in der Philosophischen Praxis bestenfalls. Ich gebe keine Ratschläge oder Beurteilungen ab – das sollte implizit geschehen. Argumente lassen einen melancholischen oder unglücklichen Menschen kalt.

HOHE LUFT: Welcher Schritt folgt auf das Verständnis?
RENE TICHY: Ein konkretes Beispiel: Jemand hat das Gefühl, im falschen Leben zu sein. Ich hinterfrage dieses Gefühl, um die Lebensgeschichte genauer zu machen und das Übersehene herauszustellen. Philosophische Praxis will über die eigene Person aufklären und das Verständnis der Ist-Situation fördern. Das Andere kommt erst danach, nämlich, wie Nietzsche sagt: Wie werde ich der, der ich bin? Wie werde ich authentisch und zu dem, der ich gedacht bin? Worauf kommt es in meinem Leben an?

HOHE LUFT: Wir sollten uns also über ein Selbst-Verständnis an die großen Fragen herantasten?
RENE TICHY: Genau. Je schlechter es Menschen geht, desto schlechter vertragen sie Trost. Ich sehe mich deshalb auch nicht als Tröster, sondern versuche, jemanden in seiner Untröstlichkeit zu verstehen. Es gehört nicht zum Mensch-Sein, das Unglück immer fern von sich zu halten – wer das versteht und sein Unglück akzeptiert, trägt sein Schicksal anders.

HOHE LUFT: … Und hier kommt die Philosophie ins Spiel?
RENE TICHY: Ja, aber sie ist schon die ganze Zeit anwesend. Philosophie ist prädestiniert dazu, Menschen darin zu bestärken, Schweres auszuhalten. Etwas flapsig formuliert: Wenn es mir schlecht geht, ist das nichts, was schnell beseitigt oder umgangen werden sollte. Vielmehr sollten wir mittendurch gehen.

HOHE LUFT: Schafft die persönliche Krise erst die nötige Voraussetzung für Philosophie?
RENE TICHY: Ja. Ich glaube, ganz ohne Krise geht es nicht. Für Schopenhauer macht allein schon die Jagd nach Sinn unglücklich. Der Zeitgeist will, dass wir glücklich sind und einen Sinn finden. Da wirkt Schopenhauer fast schon entspannend. Denn wer sagt, dass uns das Glück und der Sinn wirklich bereitet sind? Ich glaube: Wer nicht nach Sinn fragt, der hat ihn. Wer anfängt zu fragen, hat ihn schon verloren. Interessanterweise stellt sich der Sinn wieder ein, wenn ihm nicht krampfhaft nachgehastet wird.

 

Hinweis: Erstmalig wird mit dem Wintersemester 2014/15 auch ein Universitätslehrgang „Philosophische Praxis“ an der Universität Wien angeboten. Fundiertes Wissen aus relevanten Teilbereichen der Philosophie und die Etablierung grundlegenden und praxisbezogenen Wissens über Philosophie in der Gesellschaft stehen dabei im Mittelpunkt.

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